Kommentar von Dennis Riehle
Wie weit darf Selbstbestimmung führen? Nicht nur das neue Gesetz der Bundesregierung, welches den Bürgern die regelmäßige Änderung ihres Geschlechtseintrages erlaubt, hat zu einer berechtigten und notwendigen Diskussion über die Grenzen von Freiheit und Eigenverwirklichung geführt. Sie sind spätestens dann erreicht, wenn einer Gemeinschaft prinzipielle Toleranz gegenüber jedem den sittlichen, kollektiven und konsensualen Werten und Maßstäben widersprechenden Gebaren des Einzelnen abverlangt wird – und damit Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Bestimmtheit preisgegeben sind. Und was der Queerismus als Totschlagargument gegen jeden Widerspruch zur völligen Preisgabe von Sexus und Genus einzusetzen bereit scheint, ist der Feminismus wiederum mit Blick auf die Autonomie der Frau über ihren eigenen Körper anzuführen gewollt, wenn es um das Thema Abtreibung geht. Da wird immer wieder darauf gepocht, dass es allein ihre Entscheidung sei, inwieweit sie dem Heranwachsenden die Chance auf das Erblicken des Lichts der Welt gibt – oder eben auch nimmt. Ohne Rücksicht auf Tugend und Verantwortung, kommt dies einer blinden und naiven Absolution gleich.
Denn solch ein Findungsprozess gestaltet sich eben nicht im luftleeren Raum, sondern in einem ethischen Gefüge, welches durch den Grundsatz eines Rechtsstaats flankiert wird, der die Abwägung von widerstreitenden Interessen miteinander einfordert. Und hierbei muss dem Willen und der Autarkie der werdenden Mutter der Anspruch auf Leben des Ungeborenen gegenübergestellt werden. Wer sich heute in einer entmenschlichenden Art und Weise darüber lustig macht, dass es ja nur um das „Wegmachen eines Zellklumpens“ gehe, der zeigt seine moralische Abstumpfung und Verrohung. Jeder von uns trägt Responsibilität gegenüber der Zukunft unseres Volkes, unserer Spezies und unserer Generationen in sich. Daran ändert auch der Selbsthass mancher von der deutschen Ursünde verfolgten Gutmenschen nichts. Es ist bereits schlimm, verwerflich und paranoid genug, dass sich manche Klimaapokalyptiker aus der Sorge darum, ihre potenziellen Nachkommen könnten sich durch ihr bloßes Hiersein an der CO2-Verschmutzung der Atmosphäre – und damit am Untergang des Globus mitschuldig machen, zu einer Sterilisation entschließen. Dass wir in unseren Breiten offenbar ein großes Problem mit dem Befürworten des Lebens haben, das macht uns manche grünsozialistische Geißelung der Volksseele täglich bewusst.
Kaum weniger anstößig ist es, wenn man als zivilisierter, aufgeklärter und sozialisierter Mensch des 21. Jahrhunderts offenbar nicht in der Lage scheint, sich im Vorfeld des Geschlechtsverkehrs darüber bewusst zu werden, welche Konsequenzen der Beischlaf haben kann. Die Selbstlüge der ungewollten Schwangerschaft ist ein Ablenkungsmanöver von der eigenen Unfertigkeit und Unwilligkeit zur Kontrazeption und Enthaltsamkeit. Es kann jedem von uns abverlangt werden, sich auch in einem sexualisierten Zeitalter des One-Night-Stands mit dem Partner vorab über eine etwaige Familienplanung zu verständigen. Bis auf wenige Ausnahmen des Unfalls bei der Verhütung oder der Anwendung von Gewalt kommt es nicht zu einer unbeabsichtigten Empfängnis. Anderweitige Ausreden sind ein Betrug an der eigenen Mündigkeit. Viel zu wenig debattieren wir über die Auswirkungen des vorsätzlichen Entfernens der Leibesfrucht auf die Kognition und den Körper der betroffenen Frau. Als Psychologischer Berater habe ich in der Vergangenheit immer wieder Klientinnen begleitet, welche auch nach Jahren und Jahrzehnten ihren Entschluss schon allein deshalb bereuten, weil sie sich der Verlustängste und des Schamgefühls nicht bewusst waren, die dauerhaft beuteln können.
Die menschliche Existenz ist zu kostbar, um mit ihr zu spielen. Wir brauchen hierzulande endlich wieder eine Verabredung zur Würdigung des Verdienstes der Elternschaft – und ein klares Bekenntnis zu Kindern, die in unserer heutigen Leistungsgesellschaft noch viel zu oft als Karrierekiller abgetan werden. Daneben ist es die Aufgabe von Politik, Gesellschaft und Beratungsstellen, unvoreingenommen und ergebnisoffen das Gespräch denjenigen anzubieten, die sich im Ringen um das Austragen eines kleinen Wesens in einer eindeutigen Notlage und Gewissenskonflikten befinden. Wir halten von staatlicher Seite bereits viele finanzielle, materielle und personelle Möglichkeiten der Unterstützung für das Auf- und Erziehen von Nachwuchs bereit. Diese müssen besser bekannt gemacht und gestärkt werden, anstatt mit einem Gesetz über die Beschränkung der Versammlungsfreiheit von Lebensschützern abzulenken – oder gar über eine Abschaffung von § 218 StGB nachzudenken. Dies wäre die völlig falsche Botschaft angesichts des mühsam errungenen Kompromisses der Fristenlösung, welche am Ende eines schwierigen Prozesses des Ausbalancierens stand, mit dem eine Verständigung zwischen den verschiedenen Bedürfnissen und Erwartungen gefunden worden war. Diesen aufknöpfen zu wollen, bedeutete im Zweifel nicht nur das Risiko eines weiteren Absacken der für unsere Demoskopie so wichtigen Geburtenrate. Sondern vor allem weiteren sozialen Sprengstoff für eine kulturpolitisch ohnehin zerrüttete Buntrepublik.