Kommentar von Dennis Riehle
Was stellt sich Scholz so an, wenn es um die Taurus-Raketen geht? – So könnte man in einer für Kriegslüsterne allzu typischen Kurzsichtigkeit fragen, wenn der Bundeskanzler doch sogleich Selenskyj immer wieder neu seine Unterstützung zusagt – und ohnehin bereits die hiesigen Munitionslager bis nahe null an die Ukraine verschenkt hat. Weshalb hält also diese rote Linie offenbar deutlich länger und stabiler als es bisherige Grenzziehungen taten? Der allein rechtliche Hinweis, wonach man mit der Lieferung der Marschflugkörper nicht automatisch zu einem aktiven Teilnehmer der militärischen Auseinandersetzung mit Russland würde, genügt bei der Gesamtbetrachtung nicht aus. Denn einerseits ist es gut möglich, dass unser Regierungschef deutlich mehr weiß als die Öffentlichkeit – und beispielsweise Signale aus Moskau empfangen hat, dass ein solcher Schritt eben doch ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen würde, die der zumindest in diesem einen Punkt auf seinen Eid hörende SPD-Politiker nicht riskieren will, weil er Schaden vom deutschen Volke abwenden soll. Andererseits sind diese Waffen bereits von ihren Einsatzmöglichkeiten generell eher auf eine offensiv statt auf eine defensive Nutzung ausgerichtet. Scheinbar gibt es aus Kiew bislang nicht die eingeforderten und überzeugenden Zusagen, wonach sie ausschließlich zur Verteidigung des eigenen Staatsgebietes genutzt und nicht bewusst und gezielt bis weit hinein auf russisches Gebiet abgefeuert würden. Dass der Sozialdemokrat mit seiner Vehemenz durchaus viel Zustimmung in der Bevölkerung erhält, das dürfte vor allem diejenigen immer ungehaltener machen, die vom Wahlkampfpodium aus Putin die Stirn zeigen und nicht nur die Bundeswehr tüchtig sehen wollen.
Von Kiesewetter über Strack-Zimmermann bis Hofreiter gibt es immer wieder Warnungen davor, dass der Kreml im Falle eines Sieges in der Ukraine in seinem imperialistischen Gebaren nicht davor zurückschrecken würde, auf NATO-Territorium vorzudringen. Doch es gibt bislang weder einen Beleg, noch eine nachvollziehbare Erklärung, weshalb man es in Russland darauf abgesehen haben sollte, nicht nur einen Dritten Weltkrieg mit möglicherweise atomarer Beteiligung vom Zaun zu brechen. Sondern sich gleichzeitig darauf einzulassen, angesichts der ohnehin herben Verluste an der Front im Donbass das Militär und letztlich auch die eigene Bevölkerung zusätzlich zu schwächen – ohne aber tatsächlich einen wirklichen Mehrwert zu haben. Denn was will Putin in einem Europa des 21. Jahrhunderts allzu viel holen? Die pinkfarbenen T-Shirts unserer Nationalmannschaft dürften ihn ebenso wenig interessieren wie die Windräder in der greengewashten Landschaft oder die vielfältige Kultur der Beliebigkeit und Wachsamkeit, welche die Ampel uns im Kontinuum zu Merkels Gutmenschlichkeit hinterlässt. Welche Motivation sollte es also für eine weitere Eskalation geben? Die Aspekte, die den Machthaber zum Überfall auf sein Nachbarland animiert haben, liegen auf der Hand. Es war die gegen mündliche Absprachen verstoßende Expansionspolitik des transatlantischen Bündnisses und die europäische Vereinnahmung von Kiew als Affront gegen die russophile Weltanschauung der Bürger in den heute besetzten Regionen, die man „befreien“ wollte.
Mit Ausnahme von einigen schwurbeligen Aussagen von Medwedew oder Kadyrow gibt es aber keinen Anhalt dafür, dass Putin beispielsweise Deutschland im Visier hat, auch geopolitisch wäre dieser massive Vorstoß weder notwendig noch nachvollziehbar. Viel eher könnte er auf eine zunehmende Pufferung zwischen den beiden Global Playern hinarbeiten, sodass es im Sinne der sich über Jahrzehnte in allzu viel Abhängigkeit von Partnerschaften begebenden Bundesrepublik wäre, sich aus diesen Verstrickungen nach und nach zu lösen und zu einer Neutralität zu gelangen, aus der heraus wir uns nicht in weltpolizeilicher Manier in sämtliche Konflikte auf diesem Globus einmischen – sondern einen friedenstiftenden Beitrag leisten. Dass es auch zwischen der Ukraine und Russland zu einer Verständigung hätte kommen können, das haben mittlerweile aufgetauchte Dokumente aus dem Jahr 2022 bewiesen. Es war damals der Westen, der sich gegen solche Vereinbarungen sträubte – weil er in seiner völligen Fehleinschätzung tatsächlich davon ausging, dass Kiew sich nach anfänglichen Erfolgen der Gegenoffensive als David gegen Goliath aufspielen und gewinnen können. Man muss überhaupt nicht gutheißen, was der Despot im Kreml mit seinem Angriff an Leiden und Sterben verursacht hat, um in der Denkweise des Papstes zu der Einsicht zu gelangen, dass es allein aus pragmatischen und vernunftorientierten – und eben nicht als persönlichen, rachsüchtigen oder nach Überlegenheit gierenden – Gründen an der Zeit wäre, diesem Blutvergießen Einhalt zu gebieten.
Was wäre so fatal daran, eine diplomatische Initiative zu unternehmen, um möglicherweise zu einer Übereinkunft zu gelangen, welche möglicherweise in Form von demilitarisierten Zonen, in denen die Bevölkerung ohne Einfluss von außen und unter internationalem Schutz souverän über ihre Zukunft entscheiden kann, zu einem Unterbruch der Gewalt führt? Es ist also ein Plan B, den man vor allem in Washington, Paris oder Berlin bislang nicht auf den Tisch zu legen bereit ist – auch wenn sich die Anzeichen mehren, dass man so langsam aber sicher auf einen Kompromiss unter Zugeständnissen bereit sein könnte. So dürfte die Administration in den USA bereits einen deutlichen Schritt weiter sein als Melnyk und seine hetzenden Anhänger, die die Rationalität von Mützenich ausschließlich mit Beleidigungen zu quittieren in der Lage sind. Schließlich weiß man jenseits des Atlantiks einerseits nicht genau, wie lange die Demokraten noch den Präsidenten stellen werden. Andererseits sind es auch die nachlassenden Zusagen diesseits des großen Teichs, welche die Solidarität und den Zusammenschluss für ein Land schwinden lassen, das auch aus Sicht von Experten mittlerweile nicht mehr fähig scheint, zu obsiegen. Das ist eine bittere Einsicht, weil wir eigentlich davon ausgegangen waren, dass in unserem Zeitalter Fakten nicht mehr durch Brachialität geschaffen werden. Doch wir sind es nicht nur den Opfern dieser Tragödie schuldig, uns aus der Utopie der Gerechtigkeit zu befreien – die es zumindest in der irdischen Realität nie geben wird.