Kommentar von Dennis Riehle
Ich gebe zu, Geschichte war nicht immer mein Lieblingsfach. Denn ob es wirklich so notwendig und sinnvoll war, sich bis in die kleinsten Details von Steinzeit bis Mittelalter zu versteigen, um später einmal erklären zu können, wie sich unsere in der Evolution befindliche Spezies bestimmte Unterkünfte baute und zu Jägern und Sammlern wurde, kann ich nicht sagen. Zumindest für mich entpuppte sich die Verhaftung zwischen Höhlen und Beeren als allenfalls semispannend. Und so war ich dankbar, dass wir es in der weiteren Folge doch noch schafften, über Umwege im 20. Jahrhundert anzukommen. So beteten wir nach der Französischen Revolution den Ersten Weltkrieg gleich mehrfach herunter – und gelangten während meiner Schullaufbahn insgesamt vier Mal zu dem dunkelsten Kapiteln der Historie. Wie kam es also zum Aufstieg der NSDAP? Welche Bedingungen mussten vorherrschen, damit ein Regime den bestialischen Völkermord an Juden und anderen Minderheiten verüben konnte? Welche Ausgangslage bot die Weimarer Republik?
Welche kollektive Stimmung ebnete den Nährboden für all die Grausamkeiten durch Diktator Hitler? Welche Maßnahmen ergriff man nach dem Ende der Schreckensherrschaft, damit diese sich nie wieder zutragen kann? Eine Erkenntnis, die mir hängengeblieben ist: Der Nationalsozialismus ist nicht mehr. Und seine glühenden Anhänger starben nach und nach aus. Dekaden später sind die meisten derjenigen, die diese Epoche in vollem Bewusstsein miterlebt hatten, kaum noch unter uns. Geblieben sind die zwingend notwendige Erinnerung und Mahnung, aber bedauerlicherweise bis heute auch eine weitgehend sinnfreie Kollektivschuld. Denn obwohl sie weit nach diesem singulären Ereignis aus der Vergangenheit geboren wurden, empfinden gerade viele linke Seelen noch immer eine Gemeinschaftshaftung für Gegebenheiten und Entwicklungen, an denen sie nicht beteiligt waren – und die sie alleine wohl auch nicht hätten ändern können.
Durch ihre Frustration über eine oftmals kärgliche Lebensbiografie und ärmliche Leistungsbilanz sind sie Minderwertigkeitskomplexen ausgesetzt, die sie mit einer merkwürdigen Art der Selbstgeißelung kompensieren möchten. Dabei scheinen sich nicht wenige Vertreter derart tief der moralischen Unterwerfung und dem erhobenen Zeigefinger politischer Korrektheit und gesellschaftlicher Angepasstheit hinzugeben, dass ihr Immunsystem mit der Abwehr von äußeren Gefahren überfordert wirkt. So dringt bei manchen Individuen nach Corona ein weiteres Virus in den Körper ein, das allerdings andere Auswirkungen auf den Organismus hat. Es führt zu einer ausgeprägten Halluzinose – und lässt Grüne nicht nur vor der Wirklichkeit flüchten.
Seine Manifestation äußert sich in der paranoiden Überzeugung, der Nachbar mit der Deutschlandfahne auf dem Balkon sei ein lupenreiner Faschist. Was sich hinter dieser Vokabel genau verbirgt, das werden die wenigsten Betroffenen erklären können. Denn sie scheinen die Schulbank tatsächlich nur in körperlicher Anwesenheit gedrückt haben. Andernfalls müssten sie nämlich eingestehen, dass Vergleiche und Parallelen zwischen heute und damals eine verantwortungslose Relativierung darstellen. Nicht wenige Opfer des Holocaust würden sich im Grab umdrehen, wenn sie in diesen Tagen die Leichtigkeit sähen, in der Saskia Esken Alice Weidel kurzerhand auf eine Ebene mit Joseph Goebbels stellt, Björn Höcke als ein „Führer 2.0“ diskreditiert wird und Wähler der Alternative für Deutschland zu „braunen Arschlöchern“ mutieren. Da tauchen in den Köpfen der Bunten, Angepassten und Vielfältigen plötzlich Trugbilder darüber auf, wie kahlgeschorene Glatzen mit Springerstiefeln und Baseballschlägern marodierend durch unsere Städte ziehen – während das psychologische Instrument der Verdrängung die mittlerweile täglichen Anschläge durch Islamisten ausblendet.
Täter ist plötzlich nicht mehr der sich auf Allah berufende „Schutzsuchende“ mit einem satten Vorstrafenregister, sondern die hiesige Gesellschaft, die sich nicht genügend um seine Eingliederung bemüht hat. Die herrschenden Zustände werden nicht nur durch die „Omas gegen rechts“ sämtlichen Patrioten der Republik angelastet. In Thüringen grenzen die Vorzeigedemokraten um Bodo Ramelow den vom Wähler eindeutig legitimierten und an die erste Stelle platzierten Gegner kategorisch aus – und etikettieren die Alternative für Deutschland als den Vorhof zur Hölle. Wegen der Verwendung einer halben Parole wurde der dortige Spitzenkandidat zwar durch die Justiz verurteilt. Einen konsistenten und plausiblen Nachweis darüber, dass seine politische Kraft auch nur im Ansatz eine immanente Weltanschauung vertritt, die mit unseren Werten und Prinzipien nicht vereinbar ist, bleiben gerade jene schuldig, die es mit der Tatsächlichkeit nicht so genau nehmen.
Sie halten an der Märchenerzählung über die Gesprächsinhalte eines Geheimtreffens fest, um aus der Forderung nach einer Remigration von abgelehnten Asylbewerbern eine Deportation von Millionen Einheimischen mit ausländischen Wurzeln machen. Weder die Programmatik noch die Kundgaben von bestimmten Personen lassen erahnen, dass die Blauen das vorherrschende System überwinden wollen. Stattdessen geht es ihnen um die Fortentwicklung in Richtung plebiszitärer Verhältnisse, in denen der Souverän mit seiner Stimme endlich wieder das Gewicht bekommt, das ihm per Definition unserer Staatsform zusteht. Die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung bedeutet nicht, mit Willkür auch diejenigen zurückzuführen, welche aus einer tatsächlichen Verfolgung in der Nachbarschaft geflohen sind. Die vorgenommenen Unterstellungen sind Ausdruck einer progredienten Wahnhaftigkeit, die mit der Realität genauso wenig zu tun hat wie 2024 mit 1933. Und so kann man lediglich abwarten, bis die Infektiosität dieser Nazi-Psychose nachlässt. Schließlich sind diejenigen nicht mehr zugänglich für Rationalität und Pragmatismus, die in ihrer Aufgewühltheit den Knall nicht gehört haben, mit dem vor knapp 80 Jahren einem beispiellosen Spuk der massenhaften Vernichtung von Menschen ein Ende gesetzt wurde.