Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Krisenmodus und Zukunftsangst? Deutschland hat Gründe zur Zuversicht“ (aus: „Augsburger Allgemeine“ vom 09.09.2025)
„Gott, warum lässt du das Leiden geschehen?“ – Die bekannte Theodizée-Frage hat schon viele Gläubige in die Verzweiflung getrieben. Wie kann ein gutherziger und liebevoller Schöpfer ohne irgendeinen Anschein des Eingreifens dabei zusehen, dass sich ausgerechnet jene zugrunde richten, die sich, nach christlichem Glauben, doch eigentlich auf die schützende Hand ihres himmlischen Vaters verlassen können? „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist“, so sagt es schon 1. Mose 3,22. Diese Zusicherung von größtmöglicher Freiheit, Eigenbestimmung und Selbstverantwortung ist ein immenser Vertrauensbeweis gegenüber unserer ach so dekadenten Zivilisation. Und doch scheinen wir der Aufgabe kaum gerecht zu werden, uns diese Welt als spendables Geschenk nicht nur untertan zu machen, sondern sie im Glanze ihrer Schönheit und Unversehrtheit zu hegen wie zu pflegen. Ist es also die späte Rache eines erzürnten Geistes, des Fleisch gewordenen Sohnes, dass wir mit Krankheit und Krieg, Krisen und Konflikten konfrontiert sind, um einigermaßen vergeblich im Gebet um Weisheit für jene zu bitten, die sich in Imperialismus verstricken, für Größenwahn vor Brutalität und Grausamkeit nicht zurückschrecken?
Eine bittere wie ehrliche Einsicht: Das Verständnis für Leid ist ein Begreifen von Chancen!
Und weshalb gibt es überhaupt die vielen Katastrophen, wenn sich die Natur gegenüber einer moralisch ziemlich klein gewordenen Bewohnerschaft dieses Globus aufbäumt, sind wir zahlreichen Allüren doch scheinbar hilflos ausgeliefert? Über 20 Jahre von einer Zwangs- und Panikstörung, Ängsten und Depressionen, Psychose und Bipolarität heimgesucht, gesellten sich später Halbseitenlähmung und Hirnatrophie, Lebertumor und Nierenversagen, Parkinson und Herzschwäche hinzu, um meine Biografie vor ein Bündel der Herausforderungen zu stellen, angesichts dessen ich oftmals klagend wie weinend rekapitulierte, wieso ausgerechnet ich mit diesem Strauß an Unwägbarkeiten durchs Leben schreiten muss. Zunächst verlor ich die Kontrolle über Psyche und Seele, heute entgleiten mir Körper und Verstand, machen sich gerade die Auswirkungen der neurologischen Gebrechen an den unterschiedlichsten Stellen von Organismus und Kognition bemerkbar. Im Bewegen verlangsamt, in der Muskulatur steif. Innerhalb von Jahren um Dekaden gealtert, auf Pflege angewiesen, als schwerbehindert gezeichnet und gesundheitsbedingt zu Erwerbsunfähigkeit verdammt. Was soll angesichts dessen Zuversicht und Hoffnung vermitteln?
Politik und Gesellschaft sind zum Verzweifeln, aber sollten nicht gänzlich aufgegeben werden!
Auch im großen Ganzen können wir hadern, welcher Gedanke uns beim Blick in den Abgrund noch leiten soll. Für mich ist es die Katharsis des Jesus, der in der Passionsgeschichte das Kreuz auf den Schultern trug, gemartert wurde auf Golgatha, welche Mut macht. Ohne das Ankommen in den tiefsten Tälern, auf dem Boden des Scheiterns, erwächst keine Demut vor dem Potenzial und der Chance des Wachsens. Vermeintliche Sieger reiten ständig auf der Welle des Erfolges, plätschern von einem Höhepunkt zum nächsten. Charakterlichkeit kann sich aber nur dort entwickeln, wo die Ehrfurcht den Narzissmus überdauert. Bescheidenheit gilt als eine Tugend. Sie kann nur jener für sich beanspruchen, der gefallen und wieder aufgestanden ist. Wollen wir die Aussicht auf den Gipfel wagen, erstrahlt seine Schönheit nur dann, darf man sie von ganz unten vernehmen. Wer schon einmal die Rolltreppe in Richtung Erdgeschoss gefahren ist, der hat zwar einerseits Schmerz und Niederlage erfahren müssen. Doch kann andererseits von sich behaupten, im Wissen um den Wert des Ringens und Kämpfens für sämtliche Prüfungen der Zukunft gewappnet zu sein. Aus dieser Perspektive bleibt das Glas halbvoll, denn der Schiffbruch ist Nährboden für Neues.