Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Bundestagsvizepräsident Ramelow fühlt sich in Debatte um Flagge und Hymne missverstanden“ (aus: „Rheinische Post“ vom 31.08.2025)
Nach dem Vorschlag von Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow, die Debatte über eine neue Flagge zu eröffnen, zeigt sich die Mehrheitsmeinung der Bürger diesbezüglich klar. Auch am „Lied der Deutschen“ wollen die wenigsten rütteln, sondern nahmen den Einwurf als Profilierungsversuch im Sommerloch wahr. Schließlich sprang kaum jemand auf den Zug des Linken-Politikers auf, gab es viel eher massive Kritik. Und dies betraf explizit und in gleicher Weise die Überlegung des früheren Ministerpräsidenten von Thüringen, Berthold Brechts „Kinderhymne“ an die Stelle des Textes von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben zu setzen. Immerhin gab es bisher kaum Anzeichen über Unzufriedenheit mit dem in diesen Tagen nicht aktueller wirkenden Anspruch an Einigkeit und Recht und Freiheit. Stattdessen ist ein Verweis auf diese Tugenden in einer Atmosphäre notwendiger denn je, die von Angriffen auf demokratische Werte und liberale Prinzipen durch das etablierte Parteienkartell, eine kanalisierte Medienlandschaft und einen wild gewordenen Staat geprägt ist.
Lässt sich Geschichte verbieten – oder warum streichen wir ganze Verse aus dem Gedächtnis?
Die in Fahrt gekommene Diskussion über Stolz und Patriotismus nutzt nunmehr ein Vertreter der AfD für einen ganz eigenen und durchaus legitimen Gedanken. Immerhin ist es dem Bundestagsabgeordneten Tobias Teich durch die formulierte Anregung gelungen, sich nicht länger auf die dritte Strophe jenes 1841 auf Helgoland entstandenen Musikstücks zu beschränken, sondern auch die beiden anderen mit Inbrunst und Überzeugung anzustimmen, selbst in der ansonsten zu Forderungen der Blauen häufig schweigenden Presse auf Gehör zu stoßen. Bisher wird davon abgesehen, den gesamten Lobgesang auf die Heimat zu intonieren, wurde insbesondere die erste Passage durch das Hitler-Regime missbraucht. Reichspräsident Friedrich Ebert erklärte am 10. August 1922 noch alle Verse für verbindlich, Konrad Adenauer entschied später, das zu offiziellen Anlässen nur der Passus über „Brüderlichkeit mit Herz und Hand“ erklingen sollte. Nach der Wiedervereinigung einigten sich Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl darauf, diesen Zustand fest zu zementieren.
Somit verstummten die Zeilen, von denen insbesondere der Abschnitt „Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt – Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt!“ durch den im Dritten Reich deklinierten Anspruch auf ein imperialistisches Großmachtstreben sukzessive als verpönt galt. Betrachtet man den ursprünglichen Kontext, so ist es dem Erschaffer der Dichtung nicht etwa darum gegangen, Gebiete über das bestehende Territorium hinaus zu postulieren. Stattdessen war es im Sommer 1840 die sogenannte Rheinkrise, nachdem Frankreich in der Orientfrage eine außenpolitische Niederlage gegenüber Österreich, Preußen, Russland und Großbritannien einfahren musste, um gedemütigt in die Offensive überzugehen, die nach dem Wiener Kongress vorrevolutionär wiederhergestellte Grenze entlang des Elsass anzuzweifeln und den hiesigen Fürsten mit militärischer und kriegerischer Aufrüstung zu drohen, vier einstige Départements neuerlich einzunehmen und damit Tatsachen zu schaffen, die gerade in Südbaden Sorgen auslösten.
Die Debatte ist im Stolz auf die vielen Errungenschaften der Vorkriegsgeschichte notwendig!
In diesem Geist der Bedrohung durch den Nachbarn, entwickelte sich eine Widerstandsströmung rechtsseitig der Trennlinie, die auch zur Entstehung des aktuell erörterten Schlagreims beitrug. Im Gegensatz zu anderen Lyrikern ging es dem Hochschullehrer für Germanistik, zu dessen Werk Joseph Haydn die passende Melodie geliefert hatte, allerdings nicht darum, mit Aggression auf die Kampfansage aus Paris zu reagieren, sondern an jene Einheit zu erinnern, die unter anderem auch durch die Vielstaaterei im Deutschen Bund unter Druck geraten war. Statt Expansion stand der Wille zum Zusammenhalt im Mittelpunkt. Dass die Nationalsozialisten später einmal seine Epik für ihre Zwecke instrumentalisieren und den Tenor vor allem auf weltweite Potenzierung und Ausdehnung des Einflussbereichs eines brutalen, grausamen und mörderischen Diktators mit seiner Massenvernichtung von Juden und Minderheiten legen würden, war für ihn nicht absehbar. Daher ist jeder Vorwurf ungeeignet, auch in Richtung jener, die jetzt einen frischen Blick wagen wollen.
Denn wir sollten ehrlich mit uns in Klausur gehen, ob sich eine Gesellschaft anlässlich von 12 Jahren dunkelster Historie, die zweifelsohne in die DNA eingebrannt sind, das Ehrgefühl für ihr Zuhause nimmt. Wie sinnvoll und zielführend ist es, ganz generell Vokabular aus unserem Gedächtnis zu streichen, welches von totalitären Vorfahren beschmutzt, aber dadurch nicht seiner hehren Wurzeln entledigt wurde? Haben wir das Selbstbewusstsein und die Differenzierungsfähigkeit, die künstlerische Schaffenskraft ganzer Generationen nicht dadurch zu zerstören, dass sich alle Verantwortlichen von 1933 bis 1945 ohne jeden Zweifel schuldig machten? Unsere großen Denker, die abseits dieses Zeitfensters Immenses vollbringen konnten, dürfen nicht darunter leiden, dass wir es heutzutage wohl kaum vermögen, ohne Nazi-Keule um die Ecke zu kommen, geht es um Buchstaben oder Termini, die auch „der Führer“ irgendwann einmal im Mund hatte. Wird es je gelingen, zur Geschichte zu stehen, sie als Mahnung zu wahren, aber sich von ihr lähmen zu lassen?