Gastbeitrag von Michael Thoma
Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA steht für die Abkehr Washingtons von seiner bisherigen Rolle und den Übergang zu einer realistischen Logik des Offshore Balancing, die auf dem Kräftegleichgewicht, begrenzten Verpflichtungen und einer Neuverteilung der Verantwortung unter den Verbündeten beruht. Für Europa stellt dieser Kurswechsel weniger eine Frage erhöhter Verteidigungsausgaben als vielmehr eine intellektuelle Herausforderung dar: Während die Politik der Großmächte zurückkehrt, verharrt die EU weiterhin in den moralisch-normativen Denkkategorien der Nach-Kalten-Krieg-Ära. Nicht ein Mangel an militärischen Fähigkeiten, sondern diese strategische Denkdivergenz erweist sich damit als zentrales Sicherheitsproblem Europas.
Neue US-Sicherheitsstrategie

Am 4. Dezember 2025 hat die Regierung Donald Trumps die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA 2025 (National Security Strategy, NSS) vorgelegt. Sie spiegelt die „America First“-Doktrin in der Außenpolitik wider und verschiebt die bisherigen Prioritäten deutlich.
Diese Neuorientierung beruht auf der Überzeugung der Administration, frühere amerikanische Strategien seien „gescheitert“ und hätten zu einer übermäßigen globalen Belastung der USA geführt. Washington kündigt nun an, die nationalen Interessen enger zu definieren, sich auf eine gesteuerte Konkurrenz mit anderen Großmächten (China und Russland) zu konzentrieren und sich von der Praxis „endloser Kriege“ zu verabschieden.
Eine der bemerkenswertesten Wendungen der neuen Strategie ist die neu ausgerufene Politik gegenüber Europa und dem Nordatlantischen Bündnis. Im Kern ist dies freilich nichts grundlegend Neues: Die Absicht, das US-Engagement von Europa in den indo-pazifischen Raum zu „rebalancieren“, hatte bereits die erste Obama-Administration Anfang der 2010er-Jahre formuliert. Noch nie jedoch waren die offiziellen Formulierungen in strategischen Grundlagendokumenten so unverblümt und spiegelten den kaum verhüllten Verdruss Washingtons über seine Verbündeten so deutlich wider. Die USA erklären offen, den Großteil der Sicherheitslast auf die Europäer selbst verlagern zu wollen. Wie es in dem Dokument bildhaft heißt: „the days of the United States propping up the entire world order like Atlas are over“ – die Zeiten, in denen die USA im Alleingang die gesamte Weltordnung stützten, seien vorbei. Washington verweist darauf, dass es unter den Verbündeten Amerikas Dutzende wohlhabender und hochentwickelter Staaten gibt, die „die Hauptverantwortung für ihre jeweiligen Regionen übernehmen“ und ihren Beitrag zur kollektiven Verteidigung deutlich erhöhen müssen. Als neuer Maßstab wird die sogenannte „Haager Verpflichtung“ (Hague Commitment) genannt – die Vereinbarung, dass die NATO-Staaten ihre Verteidigungsausgaben auf 5 % des BIP anheben.
Parallel dazu zeichnet die Strategie ein ausgesprochen düsteres Bild der aktuellen Lage in Europa. Genannt werden innere Probleme der europäischen Staaten – vom Migrationsdruck und Tendenzen zur Zensur bis hin zum demografischen Niedergang –, die nach Auffassung der Verfasser die Stärke und das Selbstvertrauen Europas untergraben. Das Dokument warnt sogar vor der „Perspektive eines Verschwindens der Zivilisation“, sollte sich die gegenwärtige Entwicklung fortsetzen. Eine derart ideologisch-kritische Zuspitzung gegenüber Verbündeten ist in den offiziellen US-Doktrinen der vergangenen Jahrzehnte beispiellos.
Gleichzeitig wird die europäische Region keineswegs abgeschrieben, vielmehr wird ihre Schlüsselrolle für die globale Strategie der USA ausdrücklich anerkannt. In dem Dokument heißt es, Amerika „braucht ein starkes Europa, um … gemeinsam zu verhindern, dass irgendwelche Gegner“ auf dem Kontinent die Vorherrschaft erlangen. Mit anderen Worten: Washington ist daran interessiert, dass Europa ein verlässlicher Verbündeter der USA bleibt, zugleich aber in der Lage ist, für seine eigene Sicherheit einzustehen und die Ordnung in seiner Region weitgehend selbst zu gewährleisten. Die amerikanische Rolle wird eher als „Koordination und Unterstützung“ in einem neuen System der Lastenteilung verstanden. Vor diesem Hintergrund steht auch der neue Ansatz des Weißen Hauses zur Frage der NATO-Erweiterung: Die Strategie fordert ausdrücklich, mit der „Wahrnehmung und Möglichkeit der NATO als eines sich ständig erweiternden Bündnisses“ zu brechen – Washington ist nicht bereit, Verteidigungsgarantien zu übernehmen und das Risiko eines globalen Nuklearkonflikts einzugehen für Staaten, deren Schutz nicht mit den eigenen Interessen übereinstimmt. De facto machen die USA deutlich, dass sie nicht länger als „Weltpolizist“ und Schutzmacht per Default für ihre Verbündeten auftreten wollen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient der neue Ansatz Washingtons gegenüber Russland. Moskau erscheint in dem Papier vor allem im europäischen Kontext – als Bedrohung, mit der Europa selbst fertigwerden soll, unterstützt, aber nicht angeführt von den USA. Das Weiße Haus betont, dass die gebündelte militärische Stärke eines geeinten Europa – mit Ausnahme des nuklearen Arsenals – die russischen Fähigkeiten deutlich übertrifft. Bei ausreichender Geschlossenheit seien die Europäer daher in der Lage, Russland aus eigener Kraft abzuschrecken und einzudämmen; die Rolle der USA bestehe vor allem darin, diplomatisch und organisatorisch zu unterstützen, nicht aber, diesen Konflikt stellvertretend für Europa zu führen. Zugleich wird die Aufgabe formuliert, die strategische Stabilität mit Russland wiederherzustellen, das heißt eine direkte militärische Konfrontation zwischen Washington und Moskau zu vermeiden und den Beziehungen wieder ein höheres Maß an Berechenbarkeit zu verleihen – selbst wenn sie weiterhin von Rivalität geprägt bleiben. Im Kern zielt der neue Kurs also auf eine Deeskalation der Konfrontation im Vergleich zu den Vorjahren.
Insgesamt entwirft das neue Dokument ein enger fokussiertes und pragmatisches Konzept: Die USA wollen ihren Wohlstand und ihre Sicherheit stärken, indem sie den innenpolitischen Aufgaben, der westlichen Hemisphäre und dem indo-pazifischen Raum Priorität einräumen – dort, wo die Regierung Trump die zentralen Herausforderungen für die internationale Stellung der USA verortet. In Europa hingegen wird statt einer weiteren Ausweitung westlichen Einflusses – dessen wichtigstes Instrument in den vergangenen Jahrzehnten die NATO war – ein Kurs der Konsolidierung des Erreichten ausgerufen. Wie konsequent diese Leitlinien am Ende umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch: Die neue NSS spiegelt wider, wie Donald Trump und sein Umfeld auf die Welt blicken und welche Rolle sie den Vereinigten Staaten in den neuen geopolitischen Realitäten zuschreiben.
Offshore Balancing als theoretische Grundlage neuer Strategie
Der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA liegt offenkundig eine strategische Denkschule zugrunde, die in der Fachliteratur als Offshore Balancing bezeichnet wird. Sie beruht auf dem Prinzip des Mächtegleichgewichts, wie es für das realistische Paradigma der Theorien der Internationalen Beziehungen typisch ist. Im Kern geht es darum, dass eine Großmacht in den für sie entscheidenden Weltregionen ein ihr günstiges Kräfteverhältnis sicherzustellen versucht, sich dabei aber vorrangig auf lokale Partnerstaaten stützt und nur im Notfall direkt militärisch eingreift. Anders als idealistische oder hegemoniale Ansätze zielt Offshore Balancing nicht auf eine „Befriedung der Welt“, die Umgestaltung anderer Staaten nach eigenem Vorbild oder auf umfassende globale Kontrolle. Seine Ziele sind begrenzt, pragmatisch und auf die Eindämmung von Gefahren für die eigene Sicherheit konzentriert. Die Strategie setzt entweder auf eine starke Reduzierung oder den vollständigen Abzug ständiger eigener Landstreitkräfte aus anderen Regionen und auf den Einsatz „außerhalb der Küste“ (offshore) liegender Instrumente – vor allem Seemacht und Luftstreitkräfte. Mit anderen Worten: Ein Staat, der Offshore Balancing betreibt, agiert vorzugsweise aus der Distanz, stützt das regionale Gleichgewicht über Verbündete und entsendet eigene Truppen nur im äußersten Fall, zeitlich begrenzt und nur so lange, wie es zur Wiederherstellung des Gleichgewichts unbedingt nötig ist.
Als analytischer Begriff wurde „Offshore Balancing“ Ende der 1990er Jahre von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Christopher Layne in die akademische Debatte eingeführt; weiterentwickelt und popularisiert wurde das Konzept anschließend von prominenten Vertretern des strukturellen Realismus wie John Mearsheimer, Stephen M. Walt, Barry Posen u. a. Historisch knüpft diese Strategie jedoch an die seit Langem bekannte Praxis des Machtbalancierens an. Als klassisches Beispiel gilt die Politik Großbritanniens gegenüber dem europäischen Kontinent über mehrere Jahrhunderte: London versuchte, die Entstehung einer dominierenden Kontinentalmacht zu verhindern, indem es Koalitionen gegen potenzielle Hegemonen schmiedete und unterstützte – und sich nach Möglichkeit davor scheute, in größerem Umfang eigene Truppen auf dem europäischen Festland zu stationieren. Diesen Ansatz verfolgte Großbritannien gegenüber Spanien (16. Jahrhundert), Frankreich (17.–19. Jahrhundert) und später gegenüber Deutschland (erste Hälfte des 20. Jahrhunderts).
Elemente dieser Strategie lassen sich auch in der US-Außenpolitik vor 1918 erkennen. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Vereinigten Staaten, dem wachsenden Einfluss des Russischen Kaiserreichs in Asien und des Deutschen Kaiserreichs in Europa entgegenzuwirken. Im ersten Fall schlug sich dies in diplomatischer Unterstützung Japans im Krieg gegen Russland 1904–1905 nieder. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieben die USA fast drei Jahre lang neutral und beschränkten sich darauf, die Entente finanziell sowie materiell-logistisch zu unterstützen, anstatt sofort eigene Soldaten zu entsenden. Erst 1917, als deutlich wurde, dass ohne amerikanische Beteiligung das Kräfteverhältnis zu kippen drohte und Deutschland den Krieg hätte gewinnen können, traten die USA in den Krieg ein.
Prämissen, Mechanismus und Vorteile des Offshore Balancing
Die Strategie des Offshore Balancing beruht auf einer Reihe von Prämissen. Erstens – worauf Vertreter des Realismus besonders hinweisen – werden die internationalen Beziehungen in erster Linie als Konkurrenz von Staaten in einem anarchischen System verstanden, das heißt in einer Ordnung ohne übergeordnete Instanz, die wie im Inneren von Staaten Kontrolle ausübt und für die Einhaltung von Regeln sorgt. In einem solchen System sind Staaten vor allem damit beschäftigt, ihre eigene Sicherheit auf der internationalen Bühne zu gewährleisten. Die zentrale Bedrohung für die Sicherheit einer Großmacht besteht im Entstehen eines regionalen Hegemons in einer der strategisch wichtigen Weltregionen. Die USA unterscheiden traditionell drei Regionen von vorrangiger Bedeutung: Europa, die Indo-Pazifik-Region (als Zentren wirtschaftlicher und militärischer Macht, in denen andere Großmächte angesiedelt sind) und den Persischen Golf (als Quelle eines erheblichen Anteils der weltweiten Energieträger). Gefährlich wäre für die USA daher das Aufkommen einer Macht, die in Europa, Asien oder am Persischen Golf die Vorherrschaft erlangt, weil eine solche Macht ein enormes wirtschaftliches und militärisches Potenzial anhäufen und theoretisch selbst in der westlichen Hemisphäre – also in die Nähe der US-Grenzen – Macht projizieren könnte.
Zweitens ermöglicht die geographische Lage einer als Offshore-Balancer agierenden Großmacht ein Handeln „über den Ozean hinweg“, also außerhalb der potenziellen Kriegsschauplätze. Dies verschafft ihr strategische Tiefe und größere Freiheit im operativen Handeln. Großbritannien war durch Meere von den übrigen europäischen Mächten getrennt, was dem Land ein Gefühl relativer Sicherheit verlieh – solange auf dem Kontinent ein gewisses Kräftegleichgewicht gewahrt blieb. In ähnlicher Weise sind auch die USA, die in der westlichen Hemisphäre dominieren, durch Ozeane von anderen Schlüsselregionen getrennt. Drittens wird davon ausgegangen, dass andere Staaten starke Anreize haben, Bedrohungen in ihrer eigenen Region selbst zu balancieren: Regionale Mächte haben kein Interesse daran, dass ein hegemonialer Nachbar sie unter seine Kontrolle bringt, und werden daher aus eigenem Antrieb dessen Aufstieg begrenzen wollen – und zwar noch entschiedener als ein weit entfernter Balancierer.
Der Mechanismus des Offshore Balancing lässt sich wie folgt skizzieren: In Phasen, in denen in anderen Regionen (sei es Europa, die Indo-Pazifik-Region oder der Nahe und Mittlere Osten) kein Anwärter auf eine regionale Hegemonialstellung erkennbar ist, hält der Offshore-Balancer dort keine nennenswerten eigenen Streitkräfte vor. Stattdessen stützt er sich auf regionale Partner und drängt die Verbündeten dazu, ihre eigene Verteidigung und die Abschreckung gegenüber aggressiven Nachbarn selbst zu organisieren. Er kann ihnen politische, diplomatische und nachrichtendienstliche Unterstützung gewähren, Waffen liefern, wirtschaftliche Hilfe leisten und im Falle einer existenziellen Bedrohung ein Eingreifen zusagen. Möglich ist auch die Beibehaltung einzelner Infrastrukturen – etwa kleinerer Stützpunkte, Materiallager oder Radaranlagen – sowie die Durchführung gemeinsamer Übungen mit den Verbündeten. Im Grundsatz wird jedoch davon ausgegangen, dass die Hauptlast der Abwehr von Bedrohungen auf den Schultern der lokalen Staaten liegen soll.
Taucht jedoch irgendwo am Horizont ein potenzieller regionaler Hegemon auf, versucht der Offshore-Balancer zunächst, durch verstärkte Unterstützung der lokalen Verbündeten die Front gegen den aufsteigenden Hegemon zu festigen. Reicht dies nicht aus und droht das Kräfteverhältnis endgültig zu kippen, „tritt die Großmacht aus dem Off ans Festland“: Sie verlegt eigene Truppen oder führt militärische Schläge, um die Lage zu ihren Gunsten zu wenden. Dabei gilt eine zentrale Maxime: möglichst lange „offshore“ zu bleiben – also erst dann Bodentruppen einzusetzen, wenn sich das Gleichgewicht ohne sie nicht mehr halten lässt, und diese Kräfte so bald wie möglich nach Erreichen des begrenzten Ziels wieder abzuziehen.
Ein solcher Ansatz, so die Befürworter, bringt eine Reihe von Vorteilen mit sich. Er ermöglicht es, überhöhte Militär- und Rüstungsausgaben zurückzufahren und Ressourcen auf die innenpolitische Entwicklung umzulenken; zugleich werden weniger Leben der eigenen Bürger „ins Feuer gestellt“. Darüber hinaus zwingt diese Strategie die Verbündeten, nicht länger als „Trittbrettfahrer“ auf Kosten einer anderen Großmacht zu agieren. Die Verlagerung eines Teils der Verantwortung auf die Partner soll das Bündnissystem gleichberechtigter machen und andere Akteure dazu anhalten, stärker in ihre eigene Verteidigung zu investieren.
Wichtig ist dabei zu betonen, dass Offshore Balancing nicht mit Isolationismus gleichzusetzen ist. Anders als Isolationisten, die bestrebt sind, sich weitgehend aus Angelegenheiten jenseits ihrer Grenzen – im Falle der USA jenseits der westlichen Hemisphäre – herauszuhalten, zieht sich ein Offshore-Balancer nicht von der Weltbühne zurück. Er versucht vielmehr, seine dominierende Stellung zu bewahren, allerdings indirekter und selektiver. Wie Mearsheimer und Walt – prominente Befürworter dieser Strategie für die USA – hervorheben, handelt es sich in Wahrheit um eine Strategie zur „Bewahrung der amerikanischen Vormachtstellung“ in der Welt, jedoch mit einem schonenderen Einsatz der eigenen Kräfte und unter Vermeidung kostspieliger Abenteuer.
Kritik der Strategie
Selbstverständlich stößt eine solche Strategie sowohl in politischen als auch in akademischen Kreisen auf scharfe Kritik. Gerade die USA haben sich nach 1945 an die Rolle als Führungsmacht der „freien Welt“ gewöhnt; in den Vereinigten Staaten selbst und in den Verbündetenstaaten hat sich eine ganze Schicht von Expertinnen und Experten, Militärs und Diplomaten herausgebildet, die auf eine aktive globale Rolle der USA ausgerichtet ist. Vor diesem Hintergrund werden jede Überlegung, das amerikanische Engagement im Ausland auch nur geringfügig zurückzufahren – wie im Konzept des Offshore Balancing –, als Bedrohung für Einfluss und Status der USA und als potenzieller Auftakt zum Zusammenbruch der „freien Welt“ wahrgenommen.
Besonders laut sind die Einwände liberaler Denkschulen (liberaler Internationalismus sowie Neoliberalismus), die vor allem normativ argumentieren. Aus wertorientierter Sicht wirkt Offshore Balancing zynisch: Es nimmt in Kauf, dass Kriege stattfinden können, solange dadurch nicht die unmittelbaren Interessen der Großmacht berührt werden. Moralisch steht dies im Widerspruch zu jenen Werten, auf die sich die westlichen Bündnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs berufen haben.
Kritisch gesehen wird zudem ein weiterer Aspekt des Offshore Balancing: Die Strategie läuft faktisch darauf hinaus, Großmächten eigene Einflusssphären zuzugestehen. Deren Ausdehnung gilt so lange als hinnehmbar, wie sie nicht in die Nähe einer regionalen Hegemonialstellung gerät. Dies ruft scharfe Ablehnung hervor, weil es den liberalen Prinzipien der im 20. Jahrhundert entstandenen internationalen Ordnung und der formalen Gleichheit aller Staaten widerspricht. Oft wird dies mit den bekannten Chiffren „München“ und „Jalta“ verbunden – dem zynischen Zuschnitt von Einflusszonen unter Großmächten, bei dem kleinere und mittlere Staaten zur Verfügungsmasse wurden und ihr Souveränitäts- und Handlungsspielraum spürbar eingeschränkt wurde.
Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass eine Großmacht, die sinngemäß erklärt „wir ziehen uns zurück, ihr müsst selbst klarkommen“ – selbst wenn sie für den äußersten Notfall Unterstützung zusagt –, damit sowohl bei Verbündeten als auch bei Gegnern Zweifel an der Verlässlichkeit ihrer Sicherheitsgarantien weckt. Dies kann Kriege geradezu provozieren, die der balancierende Staat eigentlich verhindern wollte. Als Beleg für diese Kritik wird häufig der historische Fall des Koreakriegs angeführt: Die unklare Haltung der USA zur Verteidigung Südkoreas hat Stalin und Kim Il-sung möglicherweise zur Aggression im Jahr 1950 ermutigt.
Auf scharfe Ablehnung stößt Offshore Balancing auch bei jenen Vertretern der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen, die für eine globale Hegemonie der USA eintreten und diese als einzige Konstellation ansehen, in der internationale Stabilität gewährleistet und größere Konflikte oder Kriege unwahrscheinlich sind. Sie wenden sich vor allem gegen den Grundsatz des Offshore Balancing, wonach die regionalen Staaten selbst den Löwenanteil der Arbeit bei der Eindämmung eines potenziellen Aggressors leisten sollen, der nach regionaler Hegemonie strebt. In der Praxis sind die Nachbarn eines potenziellen Hegemons jedoch nicht immer willens oder in der Lage, sich zusammenzuschließen: Ohne Steuerung und Vermittlung durch eine dominante Macht – wie im Falle der USA innerhalb der NATO – treten zwischenstaatliche Gegensätze offen zutage, und die betroffenen Staaten bekämpfen eher einander als den aufstrebenden Hegemon. Der Offshore-Balancer sieht sich dann mit einer Lage konfrontiert, in der die Bedrohung wächst, ohne dass ein hinreichender Gegenpol entsteht – und er muss entweder spät und mit hohen Kosten eingreifen oder den Verlust von Einfluss hinnehmen.
Dennoch haben die Ideen des Offshore Balancing – wie die neue NSS zeigt – trotz der breiten Kritik Eingang in den offiziellen außenpolitischen Diskurs der USA gefunden. Noch im vergangenen Jahrzehnt galten sie im außenpolitischen Establishment, das stark von der Logik des liberalen Internationalismus und hegemonialen Denkens geprägt war, als eher randständige Position.
Was kann Europa unter neuen Umständen tun?

Die Veröffentlichung der neuen NSS hat die europäischen Eliten in erhebliche Unruhe versetzt. Erwartungsgemäß stoßen vor allem jene Passagen des Dokuments auf scharfe Ablehnung, in denen die innenpolitische Lage in den EU-Staaten kritisiert wird.
Der Präsident des Europäischen Rates, António Costa, bezeichnete das aus Washington ausgesandte Signal einer Unterstützung rechtsgerichteter Parteien in Europa als inakzeptabel. „Was wir nicht akzeptieren können, ist die Drohung einer Einmischung in die Innenpolitik Europas“, erklärte er. „Verbündete drohen einander nicht mit Einflussnahme auf ihre demokratischen Entscheidungen.“
Nicht minder schmerzhaft empfanden viele Europäer auch die in Washington anklingende Müdigkeit, weiterhin in vollem Umfang für Europas Sicherheit aufzukommen. Eine Reihe von EU-Spitzenpolitikern spricht offen davon, dass sich der Charakter des Bündnisses mit den USA gewandelt habe und Washington nicht mehr die frühere Rolle eines Sicherheitsgaranten einnehme. Europäische Beamte hätten die neue Strategie, wie die Washington Post berichtet, als eine „in Richtung Brüssel geworfene Granate“ gewertet. In Brüssel – und generell in den europäischen Führungsschichten – haben die ohnehin seit Jahren geführten Debatten über die Notwendigkeit einer beschleunigten eigenen Aufrüstung, der Stärkung europäischer Verteidigungsstrukturen und der Verringerung der Abhängigkeit von der amerikanischen Militärpräsenz weiter an Intensität gewonnen.
Doch das Kernproblem besteht nicht darin, mehr Waffen zu beschaffen oder endlos über eine „europäische Säule“ der NATO zu diskutieren. Das eigentliche Problem liegt woanders: Die Europäische Union wiederholt unablässig das Mantra von einer „veränderten geopolitischen Realität“, weigert sich aber, ihr Denken so zu verändern, dass es diesen neuen Realitäten tatsächlich entspricht. In dem Moment, in dem der wichtigste Verbündete der europäischen Staaten – die USA – immer offener im Paradigma des politischen Realismus denken und handeln, lebt ein erheblicher Teil der europäischen Eliten geistig noch immer in der Ära des triumphierenden Liberalismus der 1990er Jahre.
So unangenehm das für viele in der EU klingen mag: Die internationale Politik kehrt zu weniger ideologisierten Mustern zurück, als wir sie in den vergangenen drei Jahrzehnten gewohnt waren. In Europa dominiert dagegen weiterhin ein moralisch-normatives Weltbild, dem zufolge es eine „richtige“ und eine „falsche“ Seite der Geschichte gibt. Die EU-Staaten und andere liberale Demokratien verorten sich dabei automatisch auf der „richtigen“ Seite. Auch die USA werden diesem Lager zugerechnet – sie „verirren“ sich aus Sicht vieler europäischer Eliten nur hin und wieder, etwa wenn ein unpassender Präsident wie Donald Trump gewählt wird. Sobald in Washington wieder die „richtigen“ Kräfte – Demokraten oder hinreichend „liberale“ Republikaner – an die Macht kommen, so die Logik, werde die Weltordnung in ihren gewohnten Zustand zurückfinden. Man müsse die ungünstige Phase lediglich überstehen.
Staaten wie Russland oder China hingegen werden in die Kategorie jener eingeordnet, die auf der „falschen“ Seite der Geschichte stehen. Der Umgang mit ihnen soll aus Sicht vieler europäischer Politiker solange fortgesetzter Kampf sein, bis der endgültige Sieg errungen ist: Die „falschen“ Mächte sollen unter dem Druck innerer Widersprüche und äußerer Sanktionen scheitern und sich schließlich in „richtige“ Staaten verwandeln – also solchen Regeln und Vorgaben folgen, die von den liberalen Mächten definiert wurden. Im Kern läuft dies auf die Vorstellung hinaus, das Ende des Kalten Krieges könne wiederholt werden – so, wie es sich in der Lesart liberaler Eliten darstellt: Die eine Seite der Geschichte hatte recht, die andere nicht; nun gelte es nur noch abzuwarten, bis die „autoritären Relikte“ endgültig auf den liberalen Standard gebracht sind.
Vor diesem Hintergrund wirkt die Tatsache, dass sich die US-Außenpolitik immer deutlicher auf realistische Prinzipien des Mächtegleichgewichts und die Strategie des Offshore Balancing stützt, auf europäische Verfechter eines „unbedingten Triumphs der Werte“ wie ein Schlag in die Magengrube. Realismus geht davon aus, dass die internationalen Beziehungen keine moralische Bühne des Kampfes zwischen Gut und Böse sind, sondern ein dauerhaftes Ringen um Interessen. Er versteht Politik als Kunst, Konflikte zu verhindern und zu begrenzen – nicht als Projekt einer endgültigen Durchsetzung der „richtigen“ Seite. In der Realität sind Kompromisse unvermeidlich, auch dort, wo sie tief verankerten moralischen und normativen Überzeugungen widersprechen. Erforderlich ist ein pragmatisches Handeln – und nicht das Agieren ausschließlich auf Grundlage der eigenen Vorstellung vom „Richtigen“.
Die Europäische Union hat einen solchen Ansatz über Jahrzehnte hinweg zurückgewiesen und es vorgezogen, in der Sprache von Normen, Regeln und „europäischen Werten“ zu sprechen – nicht in der Sprache von Interessen und Machtgleichgewichten. Kein Wunder also, dass sie sich heute in einem Zustand offenkundiger Verunsicherung wiederfindet.
Echte Autonomie bedeutet weit mehr, als die Zahl der Brigaden und einsatzbereiten Divisionen zu erhöhen. Sie besteht in der Fähigkeit, auch mit jenen im Gespräch zu bleiben, die Europa als Gegner betrachtet. Darin, – wo nötig – zu Kompromissen bereit zu sein, statt jede Abweichung von einer maximalistischen Position als „Verrat an den Werten“ zu brandmarken. Darin, der anderen Seite zuzuhören und ihre Sorgen zumindest wahrzunehmen – so unangebracht, zynisch oder „anachronistisch“ ihre Argumentation aus europäischer Sicht auch erscheinen mag. Und nicht zuletzt bedeutet Autonomie, zwischen eigenen vitalen Interessen und ideologischen Präferenzen unterscheiden zu können, ohne das eine mit dem anderen zu verwechseln.
Aus dieser Perspektive muss die neue strategische Linie der USA für die EU keine Katastrophe sein, sondern kann eine Chance darstellen. Washington fordert Europa nicht auf, Demokratie und Menschenrechte über Bord zu werfen. Es zeigt vielmehr, dass selbst eine liberale Demokratie unter den Bedingungen eines harten Wettbewerbs zwischen Großmächten gezwungen ist, in Kategorien von Mächtegleichgewicht, Abschreckung, Deals und Kompromissen zu denken. Wenn die USA bereit sind, ihre Werte mit politischem Realismus zu verbinden, stellt sich für Europa die Frage, ob es dasselbe vermag – ohne seine Prinzipien aufzugeben, aber damit aufzuhören, sie als universelles Allzweckinstrument für jede Situation zu begreifen.
Bislang fällt die Antwort darauf leider ernüchternd aus. Auf der Ebene der gesamteuropäischen Institutionen – der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments – ist von einer ernsthaften Revision des idealistischen Ansatzes in der Außenpolitik wenig zu erkennen. Die Rhetorik von der „richtigen Seite der Geschichte“ dominiert weiterhin, und jede Rede von der Notwendigkeit von Deals mit „autoritären Regimen“ stößt auf massiven moralischen Widerstand. Eine systematische Arbeit an der Anpassung an die neuen Realitäten hat – jedenfalls institutionell und konzeptionell – kaum begonnen.
Gleichzeitig zeigt sich ausgerechnet auf nationaler Ebene mitunter ein erstaunlicher Pragmatismus. Bemerkenswert ist, dass er teilweise gerade in jenen Staaten sichtbar wird, die einst besonders stark unter der Jalta-Ordnung Europas und Jahrzehnten äußerer Fremdbestimmung gelitten haben. Viele von ihnen verfügen über schmerzhafte historische Erfahrungen und spüren deshalb die Grenzen militärischen Drucks und normativer Bevormundung sehr viel deutlicher. Sie wissen, dass sich Nachbarn – so unangenehm sie auch sein mögen – nicht „abschaffen“ lassen: Man wird mit ihnen koexistieren, verhandeln und Geschäfte machen müssen.
Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA ist in Wahrheit eine Einladung zum Erwachsenwerden: Entweder Europa lernt, strategisch und eigenständig zu denken, oder es wird weiter auf die Rückkehr eines „richtigen“ Amerika warten – in einer Welt, die längst nach anderen Regeln funktioniert.







