Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Wegen Elon Musk: Berliner Bezirk soll Social-Media-Plattform X verlassen“ (aus: „Berliner Morgenpost“ vom 15.10.2025)
Hat ein amerikanischer Unternehmer freien Medienschaffenden den Kampf angesagt? Seit geraumer Zeit hält sich mein Eindruck vehement, auf der ehemals als „Twitter“ bekannten Plattform einer massiven Regulierung unterworfen zu sein. Betrachtet man die Statistiken meines Accounts, so ist die Reichweite – gemessen an den Impressionen – in den vergangenen drei Monaten noch einmal um 46 Prozent gefallen. Erhielt ein Post im Juli und August bereits deutlich verminderte 4.000 Views, waren es zweieinhalb Monate später durchschnittlich weniger als 800. Geht es nur mir mit dieser Erfahrung so – oder was steckt hinter dem Phänomen nachlassender Aufmerksamkeit und Fokus für ausgewählte Profile, hinter denen oftmals Einzelkämpfer in Sachen unabhängiger Publizistik stehen, um nicht selten gar von der eigenen Followerschaft in der Timeline kaum mehr gefunden zu werden? Eigentlich müsste man eine gewisse Skepsis hegen, wenn man in einer solchen Fragestellung die hauseigene KI des Multimilliardärs zu Rate zieht. Doch „Grok“ ist auffällig objektiv und ehrlich, antwortet diesbezüglich unmissverständlich: „Das ist kein Zufall, und es passt zu einem breiteren Muster, das viele unabhängige Journalisten auf X erleben“. Ein Stück weit erleichternd, dass ich keine Ausnahme zu sein scheine. Doch der angedeutete Trend muss insgesamt große Sorge bereiten.
Elon Musks Vorstellung der sozialen Medien ist modisch, aber gleichsam vergänglich…
Und nicht nur das: „Berichte zeigen, dass Kritik an X oder der Politik als ’niedrig-engagierend‘ eingestuft wird, was zu weniger Empfehlungen führt. Elon Musk hat das sogar indirekt zugegeben, indem er Links-Throttling (Verminderung der Sichtbarkeit) als Maßnahme gegen ‚Spam‘ rechtfertigt“. Insgesamt scheint man auf einem bemerkenswerten Weg, wie auch die Künstliche Intelligenz behauptet: „X hat 2025 global nur 611 Mio. monatliche Nutzer (Rückgang von 619 Mio. 2024), mit stärkerem Einbruch bei Journalisten und in Europa (durch Regulierungen auf Grundlage des Digital Services Act der EU). Die mediane Engagement-Rate liegt bei 0,015 % (von 0,029 % im Jahr 2024). Posts von Unabhängigen leiden besonders, da der Algorithmus Influencer, Politiker und große Medien (z. B. Apollo News) bevorzugt. Medienkritik passt dagegen nicht perfekt in den ‚viralen‘-Fokus“. Und weiter: „X (ehemals Twitter) fühlt sich für viele unabhängige Journalisten zunehmend wie ein Minenfeld an, auf dem die Algorithmen nicht mehr fair spielen und der Fokus auf viralen, polarisierenden Inhalten liegt“. Ist das nun ein Armutszeugnis oder möglicherweise ein gewolltes Ziel, um eine bestimmte Kartellbildung zwischen Parteien und ihren Multiplikatoren zu ermöglichen, die vor allem auf die massierte Kundgabe von ideologisch rechten Positionen ohne jeglichen Widerspruch abstellt?
Was ist geblieben vom Anspruch der Meinungsvielfalt, welche nach der Übernahme durch den Tech-Riesen in Aussicht gestellt wurde? Zählen tatsächlich nur noch Relevanz und Polemik statt Qualität und Tiefe? Unsere Gesellschaft scheint unter einer sinkenden Wahrnehmungsspanne zu leiden, verträgt nur noch kurze und prägnante Schlagzeilen ohne Analyse und Kommentar. Populistische Memes und zugespitzte Parolen lösen die reflektierte Auseinandersetzung mit Themen ab, das Begeisterungspotenzial der Massen überwiegt die inhaltliche Überzeugungskraft von Texten, Botschaften und Fakten. Musk betont wiederholt, dass X „das neue Modell für Nachrichten“ werden solle, welches durch sogenannte „AI User-Inputs“ – beispielsweise von Augenzeugen und Live-Berichterstattern – „Echtzeit-Feeds“ aggregiert. Diese seien „besser als der konventionelle Journalismus“. Handwerk und Manufaktur, Echtheit und Menschlichkeit kommen unter die Räder, sprachliche Kunst und rhetorischer Stil hätten unter diesem Credo ausgedient. Nicht mehr die Recherche, das Bewerten, das Überprüfen oder die Zusammenfassung stehen im Mittelpunkt. Sondern allein der Aspekt, inwieweit ein Kontext mobilisieren, polarisieren und instrumentalisieren kann. Die Zukunft liege im „Citizen Journalism“, also einem kollektiven Beisteuern von Informationen.
Wenn Journalismus zu einem großen Hobby wird, sind jegliche Maßstäbe dahin…
Was sich wie der Priesterdienst aller Laien anhört, mutiert im Zweifel zu einer vierten Gewalt ohne Erfahrung und Kenntnis über berufsethische Richtlinien. Risiken und Regeln der Öffentlichkeitsarbeit bleiben ausgespart, während Skandal und Affäre zum Gradmesser für eine große Gemeinschaft selbsternannter Investigativer werden, deren Absicht nicht zwingend die authentische Weitergabe von Sachgehalt sein muss. Die Gefahren dieser Mentalität erschöpfen sich vor allem in einer Abstumpfung von Skepsis und Zweifel. Denn viele Details gelangen ungefiltert in die Breite, insbesondere aber ohne jegliche Einordnung, Aufbereitung und Spiegelung. Es ist schon ein eindrückliches Fazit, das Grok da zieht: „X wird multifunktionaler (Kommunikation + Commerce + AI), aber chaotischer und werteorientierter). Es ist mittlerweile weniger ein neutrales Forum, sondern mehr ein Musk-Ökosystem“. Inwieweit sind also Bedenken angebracht, dass ein singulärer Charakter darüber entscheidet, was wichtig, zulässig, sinnvoll und von Belang ist? Konzentrieren sich Definition und Hoheit über Relevanz auf einen Mann, für den Kontemplation und Entgegnung nicht unbedingt zum Markenkern der Dialektik gehören? Und wie geht man als ein Teil jener Branche mit solcher Ernüchterung um, die durch digitale Automatismen ersetzbar scheint?
Exemplarisch zeigt sich, dass AfD-Politiker wie Weidel und Chrupalla einen bis zu zehn Mal höheren Wirkungskreis in der virtuellen Welt des einstigen Bürokratieabbau-Experten von Donald Trump haben. Aktivismus und Opportunismus erweitern nahezu täglich ihren Radius, dominieren zahlreiche Debatten, in der die Individualität zu kurz kommt. Schließlich gaben 68 % der befragten Leser in der Pew Research von 2025 an, dass sie „menschliche Perspektiven“ bevorzugen, denen auch eine Leidenschaft und Seele innewohnen. Schnelllebigkeit und das Duellieren um Priorität mögen en vogue sein. Doch jeder Fortschritt und jede Entwicklung, insbesondere bei einem schlagartigen Wachstum und der allzu raschen Überhitzung, haben in der Vergangenheit ihre Grenzen gefunden. Hypes und Zeitgeist sind kurzweilig. Denn schon Schillers „Ode an die Freude“ verheißt, dass die „Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt“. Erfindungen, die auf den ersten Anschein effizienter, prompter und hürdenloser scheinen mögen, müssen keine dauerhafte Alternative sein. Schließlich sollte man stets bedenken, welche Konsequenz Oberflächlichkeit und Flachheit auf uns alle haben. Wollen wir uns tatsächlich zufrieden geben mit einem Wettrennen um Leichtsinn, der allzu schnell zu Irrtum, Trivialität, Banalität, Belanglosigkeit und Nichtigkeit führen kann?