Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Antrittsbesuch in der Türkei: Wadephul in Ankara – Besuch bei einem schwierigen Freund“ (aus: „Süddeutsche Zeitung“ vom 17.10.2025)
Wie ernst kann man eine Bundesregierung noch nehmen, deren Außenminister historische Unwahrheiten verbreitet? Unlängst hatte Johann Wadephul der Zeitung „Hürriyet“ ein Interview gegeben, um darin zu betonen, dass türkische Gastarbeiter „das deutsche Wirtschaftswunder ermöglicht“ und die Bundesrepublik „mit aufgebaut“ hätten. Doch dieses geschichtliche Narrativ hat sich längst als Falschbehauptung entlarvt. Schließlich wurde das Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961 mit einer anschließenden Zuwanderung von rund 870.000 Personen bis 1973 deutlich nach dem ökonomischen Aufschwung ab den 1950er-Jahren unterschrieben. Wesentlich zuständig für das Prosperieren von neuem Wohlstand waren nicht zuletzt der Marshallplan zwischen 1948 und 1952, die Währungsreform ab 1948, der Einsatz einheimischer Arbeitskräfte wie der sogenannten „Trümmerfrauen“ und die Freimarktpolitik, die ein Absinken der Arbeitslosigkeit auf unter ein Prozent und einen Anstieg des Pro-Kopf-Bruttoinlandsproduktes auf über 300 Prozent noch vor 1960 ermöglichte. Insgesamt gilt die Diskussion als aufgebläht – und von einer anbiedernden Unterwürfigkeit geprägt.
Türkische Gastarbeiter waren ein Katalysator, aber nicht der Ursprung des Wachstums…
Der Hintergrund des Akquirierens von Migranten aus Richtung Bosporus zum Zwecke der Schließung eines immer größeren Bedarfes an Humankapital in der Industrie war insbesondere der Mangel an geeigneten Fachkräften im Bergbau und für das Bauwesen. Letztlich kann man attestieren, dass der Zustrom aus den Metropolen Ankara und Istanbul zu einer Intensivierung, Fortsetzung und Vertiefung der Expansion beigetragen hat, allerdings keinesfalls dessen Fundament bildete. Zwar wäre es ohne ihre Unterstützung nicht gelungen, das hohe Niveau an Produktivität und Umsatz zu halten. Der Ursprung für die positive Entwicklung lag jedoch in der Bereitschaft der hiesigen Bevölkerung, massiv Pflichtgefühl zu übernehmen und überhaupt erst die Grundlagen dafür zu legen, dass das Wachstum auf bis zu sieben Prozent jährlich steigen konnte. Der Einsatz von Ausländern war als „temporäre Reservearmee“ für Betriebe und Unternehmen gedacht, die auf dem hiesigen Arbeitsmarkt die Nachfrage an Personal nicht decken konnten. Er galt als ergänzend, nicht als alternativlos. Und nicht zuletzt misst man ihm allenfalls eine Nischeneffekt zu, der markant, aber relativ ist.
Der ausländische Beitrag am Wiederaufbau ist unverkennbar, aber leicht zu überschätzen!
In zahlreichen Debatten wird bis heute von einem „gigantischen Irrtum“ gesprochen, wenn die Bedeutung der damaligen Einwanderung massiv überschätzt wird. Keinesfalls gemindert werden sollte die Partizipation bei Automobilherstellern wie „Ford“, an dessen Standort in Köln teilweise bis zu 20 Prozent der Belegschaft aus der Türkei stammte. Auch bei der Errichtung des Olympiastadions in München wirkten die Gastarbeiter maßgeblich und nachhaltig mit. Ebenso beim Ausbau von U-Bahnen, unter teils schwierigen Bedingungen, zuverlässig und bisweilen im Schichtsystemen. Ihr Engagement bleibt deshalb ohne Zweifel erwähnenswert. Gleichzeitig gehen manche Experten auch davon aus, dass ihre hohe Verfügbarkeit Automatisierung und Technologisierung verzögert haben. Inwieweit die Deutschen allein die Nachfrage hätten kompensieren können, bleibt zwar einigermaßen hypothetisch. Berechnungen gehen jedoch davon aus, dass das BIP lediglich um ein, höchstens zwei Prozent niedriger ausgefallen wäre, müsste man damals vor allem den mit 15 Prozent an der Gesamtleistung beteiligten Export allein mit inländischen Kräften bewerkstelligen.
Wann werden wir ehrlich und dankbar über die Leistung der eigenen Boomer sprechen?
Scheinbar müssen Menschen bei uns noch immer schmähen, sich selbst auf die Schulter zu klopfen. Wann hat man die eigenen „Boomer“ und ihre Hingabe für die Heimat gewürdigt, wo bleiben Anerkennung und Respekt für ihren biografischen Einstand gegenüber den Kriegsfolgen? Augenscheinlich sind wir fortwährend belastet mit der Schuld des Nationalsozialismus, haben aus Sicht von Betrachtern zu wenig gebüßt, obwohl das Dritte Reich längst vergangen ist – und aus Verantwortung Mahnung und Erinnerung werden sollte. Das Bewusstsein für den immanenten Geist, Schuttberge von bis zu 60 Prozent mit bloßen Händen zu beseitigen, teilweise 48 bis 50 Stunden pro Woche lang, wird getilgt durch den Fokus auf die dunklen Kapitel der Vergangenheit. Sie ersticken jeden Stolz für das Erbrachte und Geleistete nach 1945 im Keim, heften die Verdienste Fremden und Dritten ans Revers. Etwa 12 Millionen Vertriebene aus Schlesien oder dem Sudetenland wurden in die westdeutsche Wirtschaft integriert. Deren Wissen im Handwerkertum oder der Ingenieurskunst waren nicht zuletzt im Agrarwesen unverzichtbar. Ihnen gilt vornehmlicher Dank, wenn wir ehrlich sind.
[…] Ein Märchen nach Johann Wadephuls Geschmack: Wie türkische Gastarbeiter von 1961 das zerstörte De… […]