Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Jugendschutz – Leopoldina fordert: ‚Keine privaten Smartphones bis zur 10. Klasse!'“ (aus: „ZEIT Online“ vom 13.08.2025)
„Es ist wichtig, Twitter so attraktiv wie möglich zu machen“, so sagte der heutige Besitzer der kaum noch aus dem Markt der Nachrichtenplattformen und modernden Informationsgewinnung wegzudenkenden Plattform, Elon Musk, über sein eigenes Unternehmen, um die Erklärung anzufügen: „Das bedeutet, den Leuten keine Inhalte zu zeigen, die sie als anstößig empfinden würden. Oder sogar, offen gesagt, langweilig ist nicht gut“. Was in Teilen als widersprüchlich aufgefasst werden kann, war eine Ansage an die Mitkonkurrenten auf dem Markt der sozialen Netzwerke. Immerhin pendelt der Multimilliardär mit seiner Erwartung zwischen einem respektvollen Ort der gesitteten Meinungsvielfalt und einem Spielfeld, auf dem es derbe zugehen soll, ohne gleichzeitig allzu viele Fouls zu verursachen. Das Austarieren zwischen einer bis ins Extrem getriebenen Kultur der offenen Rede einerseits und einem Unterbinden von allzu vielen Äußerungen andererseits, die zwar nicht Gesetzesgrenzen überschreiten, für einen würdevollen Diskurs aber dennoch Gift sind, kann sicherlich nicht leichtfallen. Denn Balance zwischen verschiedenen Maxima der Verwirklichung zu finden, ist gewagt.
Nach rund drei Jahren in den Händen des amerikanischen Technologie-Riesen, der den „Vogel befreite“, um weder Zensur und Regulierung länger dulden zu wollen, noch in die unbehelligte Aussprache von Missständen und Schieflagen in der Welt einzugreifen, entwickelt sich seine Investition wohl nur bedingt in die angestrebte Richtung. Nutzer haben vermehrt den Eindruck, dass im Hintergrund nach Belieben an den Algorithmen gedreht wird, um sie nicht zuletzt in Sorge vor möglichen Strafen durch die Europäische Union zur strikten Benachteiligung von kontroversen Themen zu programmieren. Beweise hierfür gibt es nicht, fehlt es an entsprechenden Einlassungen des Konzerns selbst, nach welchen Kriterien er die Sichtbarkeit von Posts priorisiert oder drosselt. Dass im Hintergrund offenbar fleißig an Stellschrauben gedreht wird, ist kein Geheimnis mehr. Denn seit geraumer Zeit erfahren zahlreiche Accounts deutliche Eingriffe in die Zahl ihrer Impressionen. Und nicht nur der „Digital Services Act“ aus Brüssel stellt mithin klare Eckpfeiler auf, fordert seit 1. Juli 2025 durch ein Zusatzprotokoll sogar die „Demonetarisierung“ ungenehmer Inhalte.
Die Regulierung ist ein offenes Geheimnis, wird sie für viele Accounts praktisch spürbar…
Ich selbst habe erfahren, wie meine Präsenz in den Timelines sukzessive beschnitten wurde, um mittlerweile auf einem Niveau anzukommen, welches mich nicht einmal mehr die Voraussetzungen erfüllen lässt, schlappe 10 bis 15 Euro pro Monat dafür ausgezahlt zu bekommen, dass ich als „Gestalter“ umfangreichen Content für die „Community“ bereitstelle. „Dies könnte auf eine algorithmische Verzerrung hinweisen, die durch Faktoren wie Nutzerinteraktionen (Likes, Retweets) und polarisierende Inhalte verstärkt wird, die generell mehr Engagement erzeugen“, so erklärt die hauseigene KI namens Grok. Und antwortet diesbezüglich weiter: „Die Intransparenz der Algorithmen erschwert es, definitive Beweise für eine gezielte Benachteiligung zu finden. Forscher kritisieren, dass X seine Algorithmen nicht offenlegt, was Spekulationen über Manipulationen nährt. Ein sogenannter ‚Shadowban‘ wird häufig diskutiert, bei dem die Sichtbarkeit von Inhalten oder Nutzern eingeschränkt wird, ohne dass diese explizit benachrichtigt werden“. Ein Schelm, wer an diese Maßnahmen nicht glaubt, um Überwachung und Kontrolle zu einer bösen, rechten Verschwörungstheorie zu degradieren.
Doch es ist nicht nur diese Perspektive, welche einen Schatten auf die gesamte Branche wirft. Musk selbst war es, der einst betonte: „Instagram macht die Leute depressiv und Twitter macht die Leute wütend. Was ist besser?“. Und tatsächlich ist vor allem das politische X zu einer Jauchegrube der digitalen Menschheit geworden, spiegelt sich unter einem Brennglas der Gesellschaft ein Bild größter Demagogie und Agitation wider, laden nicht nur eine massive missbrauchte Anonymität und ständig herabgesetzte Hemmschwellen zum Pöbeln, Beschimpfen, Verleumden und Anprangern ein. Eine gesunde, konstruktive und förderliche Diskussion ist auch deshalb rar geworden, weil viele Individuen ihre Lebensaufgabe darin sehen, den Tag am Abend mit der Gewissheit zu beschließen, wieder einmal gehetzt und untergebuttert, aus Prinzip widersprochen und mit plumper Verbalgewalt alles oder jeden attackiert zu haben, der nicht in sämtlichen Facetten die eigene Position unterstreicht. Eine armselige Bankrotterklärung von Leuten, die ihr Selbstwertgefühl biografisch haben schleifen lassen, fühlen sie sich nur dann bestätigt, haben sie in jedem Fall das letzte Wort.
Es gibt nur noch Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Links und Rechts…
Da wird zum Angriff auch dann gepfiffen, reduziert man Beiträge und Texte auf einzelne Phrasen oder Buchstaben, um auf Teufel komm raus dem Gegenüber Vorhalte wegen seiner Auffassung und Position zu machen. Das obsessive Bestreben, ihn auf einen bestimmten Standpunkt drängen zu wollen, die emotionale Verletzlichkeit des Anderen zu provozieren und sogar auf begründeten Argumenten dann herum zu trampeln, ist man nicht pro Ukraine oder für Russland, weder im Geiste Israels noch der Palästinenser, kein unkritischer Jünger der AfD oder von Donald Trump, im Zweifel schwul oder lesbisch, übergewichtig und unansehnlich, hat einen skurrilen Musikgeschmack oder einen verpönten Beruf, grassiert unentwegt. Die Agenda der Verrohung und Abstumpfung kommt nicht von irgendwoher, war es wiederum Musk, der festhielt „Die fundamentale Schwäche der westlichen Zivilisation ist Mitgefühl“. Dass man in der Öffentlichkeit heutzutage kaum noch Empathie wird erhoffen können, hat seine Ursache unter anderem auch darin, dass manche Erwachsene „Knigge“ für einen Jugendbegriff halten. Und ebenso im Umstand, dass wir Populismus höher schätzen als Differenziertheit und Abwägung.
Ich gebe zu, mich hat die Nutzung der neuen Medien kränker gemacht als ich es ohnehin schon bin. Klinisch festgestellte Korrelationen zwischen dem vegetativen Nervensystem und der Anwesenheit auf der App lassen recht unzweifelhaft erahnen, wie aufreibend das Klima in einem Umfeld sein muss, das von wachsender Ignoranz und steigender Abschätzigkeit geprägt ist. Denn die Belastung für die eigene Psyche ist nicht zu unterschätzen, suchen wir uns in einer Dekade nachlassender Würdigung und wegbrechender Zustimmung für die Leistung und Person unseres Nächsten alternative Wege der Anerkennung. Da prosperiert schnell eine Abhängigkeit von Herzchen, Followern und Statistiken. Und nicht zuletzt wird die Wahrnehmung und Unterscheidungsfähigkeit zwischen Virtualität und Realität verwischt. Gerade die ungerechte Behandlung zwischen Influencern und dem einfachen Bürger in der Reichweite, der Hass auf die „falsche“ Ideologie oder der Reiz des Beleidigens, Brüskierens und Demütigens als Kompensation für gescheiterte Existenzen sind der Nährboden für eine Zukunft, die bedauerlicherweise immer mehr in Oberflächlichkeit und Rabiatheit unterzugehen droht.