Gastbeitrag von Alfred Lenz
Die Domino-Theorie gilt seit Vietnamkrieg als diskreditiert – prägt aber weiterhin westliche Entscheidungslogiken. Der Ukraine-Krieg wird oft als erster Stein in einer Kette möglicher Aggressionen gelesen; Reputation und Abschreckung überlagern dabei den intrinsischen Wert der Ukraine. Das nährt “2029-Szenarien” und verstärkt Aufrüstung. Doch die Domino-Logik vereinfacht komplexe Motive, befeuert Eskalationsspiralen und mündet im Sicherheitsdilemma – mit hohen Kosten und ungewissen sicherheitspolitischen Erträgen.
Wie ein diskreditiertes Konzept weiterwirkt

Die Domino-Theorie in den Internationalen Beziehungen ist überwiegend mit negativen Konnotationen behaftet. Sie wird insbesondere mit dem amerikanischen außenpolitischen Ansatz in Asien während des Kalten Krieges in Verbindung gebracht, der letztlich im gescheiterten und blutigen Vietnamkrieg mündete und sowohl außen- als auch innenpolitische Krisen für die Vereinigten Staaten zur Folge hatte. Grundlage dieser Theorie war die Überzeugung, dass Washingtons Hauptgegner, die Sowjetunion, ihre Einflusssphäre in der Dritten Welt gezielt ausweite, wobei Staaten – ähnlich wie Dominosteine – nacheinander unter dem Druck kommunistischer Kräfte „fallen“ würden. Man nahm an, dass nach dem Fall Südvietnams weitere Länder folgen und die USA schließlich aus der gesamten Region verdrängt würden.
Nach dem Vietnamkrieg wurde die Domino-Theorie im öffentlichen Diskurs weitgehend diskreditiert, verschwand jedoch nicht aus der Denklogik politischer Entscheidungsträger. So interpretierten amerikanische Politiker – allen voran Zbigniew Brzezinski, der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter – die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979 als Teil eines umfassenderen Plans Moskaus, sich den Zugang zum Arabischen Meer zu sichern und damit über den ölreichen Persischen Golf politisch-strategischen Einfluss zu gewinnen. Tatsächlich bestanden im sowjetischen Politbüro jedoch keine derartigen Expansionsabsichten.
Ein derartiges Wahrnehmungsmuster internationaler Entwicklungen ist jedoch keineswegs ein ausschließlich westliches Phänomen. So deutete die russische Führung die Ereignisse des sogenannten „Arabischen Frühlings“ in den Jahren 2010–2011 im Nahen Osten als gezielte und koordinierte „Regimewechsel“-Politik der USA und ihrer Verbündeten – und nicht als eine Reihe voneinander unabhängiger, wenn auch ähnlicher Umbrüche, bei denen Washington und die europäischen Hauptstädte vielfach überrascht wurden und reaktiv handelnmussten. Diese teils überschätzte Wahrnehmung westlicher Intentionalität bildete wiederum eine der Grundlagen der russischen Politik in Syrien.
Das Denken in den Kategorien der Domino-Theorie ist unter politischen Entscheidungsträgern bis heute weit verbreitet. Der bekannte amerikanische Theoretiker der Internationalen Beziehungen Robert Jervis definierte die Logik dieser Theorie als „die Erwartung, dass eine Niederlage oder ein Rückzug in einer bestimmten Frage oder Region der Welt – über verschiedene Mechanismen – weitere Forderungen der Gegner an den Staat sowie Absetzbewegungen seiner Verbündeten nach sich ziehen“. Es lässt sich argumentieren, dass eine solche Denkweise auch im Kontext des Krieges in der Ukraine gegenwärtig wieder deutlich erkennbar ist.
Domino-Linse im Ukraine-Krieg: Bedrohungsnarrative und die „2029“-Erzählung
Seit Beginn der russischen Invasion wird der Angriff auf die Ukraine im Westen als Teil eines größeren, über die Ukraine hinausreichenden Projekts Moskaus interpretiert. In den politischen und sicherheitspolitischen Eliten der westlichen Staaten gilt mittlerweile als selbstverständliche Annahme, dass Russland nicht bei seinem Nachbarstaat Halt machen werde und nach einem möglichen Sieg über die Ukraine weitere Länder – etwa die baltischen Staaten oder Polen – bedrohen könnte. Bereits im Jahr 2024 formulierten die Außenminister des Weimarer Dreiecks (Deutschland, Frankreich und Polen) in einem gemeinsamen Essay für Politico die Überzeugung, Russland werde „seine aggressive und imperialistische Politik nicht aufgeben“, weshalb „heute die Ukraine angegriffen wird – und morgen ein anderer Teil Europas“ betroffen sein könne.

In den vergangenen Monaten hat sich diese Wahrnehmung in einer zunehmenden Überzeugung vieler politischer, militärischer und analytischer Akteure – sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Staaten – niedergeschlagen, dass Russland einen Angriff auf die NATO bereits im Jahr 2029 plane. Wie eine Untersuchung der Zeit zeigt, ist diese Jahreszahl weitgehend spekulativ und stellt vielmehr einen alarmistischen Diskurskonstrukt dar. Gleichwohl beeinflusst sie weiterhin das sicherheitspolitische Denken westlicher Entscheidungsträger. So deutete auch der neue Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Martin Jäger, in einer jüngsten Rede an, ein solcher Angriff könne „sogar vor 2029“ erfolgen – Russland wolle die NATO spalten und Europa destabilisieren, notfalls auch durch eine direkte militärische Konfrontation.
Diese Bedrohungsagenda wird maßgeblich von dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vorangetrieben, der auf eine langfristige und stabile Unterstützung durch die NATO-Staaten angewiesen ist. Bemerkenswert ist dabei, mit welcher Selbstverständlichkeit westliche Politiker diese Logik übernehmen – ohne nennenswerte Skepsis oder kritische Distanz gegenüber ihrer analytischen Tragfähigkeit.
Reputation über Eigenwert: Die Ukraine im Westen vor und nach 2022
Es ist bemerkenswert, dass immer dann, wenn die Logik der Domino-Theorie zum Tragen kommt, die Bedeutung des jeweiligen „Dominosteine“ in der Wahrnehmung des Verteidigers des Status quo exponentiell zunimmt. Robert Jervis unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem inhärenten (intrinsischen) Interesse an einem Objekt und solchen Interessen, die aus reputationsbezogenen Überlegungen entstehen. Wie Glenn Snyder betont, bestehen intrinsische Interessen unabhängig von den Beziehungen eines Akteurs zu anderen Akteuren. Reputationsinteressen hingegen gewinnen vor allem im Kontext zwischenstaatlicher Interaktionen an Gewicht. Für einen Akteur – insbesondere für eine Großmacht oder Supermacht – wird entscheidend, wie er wahrgenommen wird, wenn er beispielsweise einem angegriffenen Staat keine Unterstützung leistet. Wird seine PassivitätalsSchwäche interpretiert? Könnte der Rivale daraus schließen, dass der betreffende Staat nicht willens oder fähig ist, die bestehende internationale Ordnung zu verteidigen – und dadurch weitere Aggressionen gegen seine Verbündeten provozieren?
Seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahr 1991 kam dem Land für die Vereinigten Staaten und die europäischen Staaten nur begrenzter intrinsischer Wert zu. Zwar bestand stets ein Interesse daran, dass die Ukraine ein souveräner Staat bleibt, da dies die nach dem Kalten Krieg etablierte Ordnung in Europa stärkte; sie wurde nicht als Teil einer legitimen russischen Einflusssphäre anerkannt. Dies erklärt etwa, warum ukrainische Führungspersönlichkeiten 1999 demonstrativ zu den Feierlichkeiten anlässlich des 40-jährigen Bestehens der NATO in Washington eingeladen wurden – ohne ein Recht auf aktive Teilnahme am Gipfel zu erhalten. Doch duldeten westliche Staaten über Jahre hinweg Moskaus faktische Kontrolle über seinen Nachbarn, auch in Form offener politischer Einflussnahme.
Sowohl die NATO als auch die Europäische Union versuchten wiederholt, den prowestlichen außenpolitischen Kurs der Ukraine zu sichern. 2008 kulminierten diese Bemühungen in der Diskussion über die Gewährung eines Membership Action Plan (MAP) für Kiew (und Tiflis). Dieser Schritt bedeutete jedoch keinen realistischen Beitritt zur Allianz, sondern führte lediglich zu einer erheblichen Verschlechterung der Beziehungen zu Russland. Auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 wurde der Ukraine zwar eine zukünftige Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, doch blieb dies eine rein symbolische Zusage ohne praktische Verpflichtungen. Ein ähnliches Muster zeigte sich in der EU-Politik der Östlichen Partnerschaft sowie bei der Unterzeichnung des Assoziierungs- und Freihandelsabkommens mit der Ukraine – Maßnahmen, die zwar den Eindruck einer europäischen Zugehörigkeit erweckten, tatsächlich jedoch keine realistische Perspektive auf Mitgliedschaft boten.
Heute betont die NATO offiziell nicht mehr, dass der Platz der Ukraine in der Allianz sei – auch wenn Generalsekretär Mark Rutte weiterhin auf dieser Formulierung beharrt, trotz des Widerstands der US-Administration unter Donald Trump. Gleichzeitig erwägt die Europäische Union, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen, wobei die Wahrscheinlichkeit eines positiven Beschlusses hoch ist. Dennoch gibt es keinerlei Garantien, dass dies langfristig zu einer tatsächlichen Mitgliedschaft führen wird. Sowohl die NATO- als auch die EU-Politik gegenüber der Ukraine lassen sich daher – wie es The Economist treffend formulierte – als eine „Schein-Erweiterung“ (phoney enlargement) charakterisieren.
Westliche Politiker gaben selbst offen zu, dass die Ukraine weitgehend außerhalb der euroatlantischen Strukturen stand und kaum Chancen hatte, der „Grauzone“ zwischen Ost und West zu entkommen. Ein Beitritt zur NATO galt – entgegen der Bukarester Formel – als nicht realistisch. Der frühere US-Präsident Barack Obama rechtfertigte 2016 die vergleichsweise zurückhaltende Reaktion auf Russlands Vorgehen in den Jahren 2014–2015 mit der Feststellung, die Ukraine liege außerhalb der vitalen Interessen Washingtons, während Moskau dort zentrale strategische Interessen verfolge und aufgrund seiner militärischen Überlegenheit im Vorteil sei. Zudem richteten die Vereinigten Staaten seit den 2010er-Jahren ihren strategischen Fokus zunehmend auf die Eindämmung Chinas. Unter der Trump-Administration wurde die Ukraine sogar zu einem innenpolitischen Spoiler. Auch die europäischen Schlüsselmachtzentren, insbesondere Deutschland und Frankreich, unterstützten die Ukraine zwar formal, verfolgten jedoch primär das Ziel, die Kooperation mit Moskau aufrechtzuerhalten.

Mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine änderte sich die Haltung der westlichen Staaten grundlegend. In gewisser Weise wiederholte sich dabei die Logik, die ein Berater von US-Präsident Harry Truman einst im Kontext des Koreakriegs formulierte: „Die eigentliche Grundlage der Entscheidung hatte fast nichts mit Korea selbst zu tun, sondern mit der Frage der Aggression.“ Der Angriff auf die Ukraine wurde im Westen als massiver Schlag gegen die regelbasierte internationale Ordnung interpretiert. Reputationsinteressen spielten bei der Unterstützung Kiews eine entscheidende Rolle, da die Stabilität der bestehenden Weltordnung – herausgefordert durch revisionistische Staaten – auf dem Spiel stand. Auffällig ist, dass westliche Akteure die Lage in der Ukraine häufig mit jener um Taiwan verknüpfen. In diesem Zusammenhang gilt die entschlossene Unterstützung des ukrainischen Widerstands gegen Russland als Warnsignal an Peking – was die deutliche Reaktion auch außereuropäischer Staaten wie Japans erklärt. Gemäß dieser Logik sind die Herausforderer des Status quo jene Staaten, die der Westen als autoritär bezeichnet, während die instabilen „Dominosteine“ weltweit verteilt sind.
Ein weiterer, ebenfalls reputationsbezogener Argumentationsstrang innerhalb der Domino-Logik besagt, dass ein Fall der Ukraine ohne westliche Unterstützung den russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner Überzeugung bestärken würde, die USA und die NATO seien zögerlich und unentschlossen. In der Folge würde Moskau zunehmend bereit sein, westliche „rote Linien“ zu überschreiten, was langfristig zu einer Eskalation bis hin zu einem Dritten Weltkrieg mit möglicher nuklearer Dimension führen könnte. Diese Überlegungen äußerte unter anderem Dara Massicot, Expertin des Russia and Eurasia Program der Carnegie Endowment for International Peace, während der langwierigen Debatten im US-Kongress über die Militärhilfe für die Ukraine.
Die Logik der Domino-Theorie kann sich auch in der Annahme äußern, dass die Kontrolle über das angegriffene Landdasökonomische Potenzial des Aggressors stärkt und somit den Fall weiterer „Dominosteine“ beschleunigt. Ein Beispiel für diese „ökonomische“ Argumentationslinie liefert der tschechische Außenminister Jan Lipavský, der erklärte: „Eine Niederlage der Ukraine würde den Siegern neue Ressourcen verschaffen und die Tür für weitere ,Spezialoperationen‘ in Mittel- und Osteuropa öffnen.“
In gewisser Weise hat Russland selbst dazu beigetragen, dass westliche Staaten die Politik des Kremls durch die Linse der Domino-Theorie betrachten. Russische Regierungsvertreter betonen wiederholt, dass der Krieg in der Ukraine nur ein Ausdruck einer umfassenderen Konfrontation sei, in der Moskau beabsichtige, die als „ungerechnet“ empfundene Weltordnung zu revidieren. Dabei ist daran zu erinnern, dass die von Russland im Dezember 2021 vor dem Einmarsch vorgelegten Forderungen nicht auf die Ukraine beschränkt waren – ja, sie betrafen sie fast nur indirekt – und vielmehr die grundsätzliche Unzufriedenheit mit der bestehenden europäischen Sicherheitsarchitektur widerspiegelten. Gleichwohl wäre es eine grobe Vereinfachung, daraus den Schluss zu ziehen, dass Russland nach einem möglichen Sieg in der Ukraine andere Staaten des Kontinents militärisch angreifen wolle.
Nebenwirkungen: Eskalation, Aufrüstung, Sicherheitsdilemma
Insgesamt zeigt sich, dass die Domino-Theorie nicht nur zu einer Übervereinfachung hochkomplexer Realitäten führt, indem sie den Handlungen anderer Akteure ein umfassendes strategisches Kalkül unterstellt, sondern auch destabilisierende Folgen haben kann. Zum einen kann sie Eskalationsprozesse fördern und sich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln, die zur Ausweitung des Konflikts beiträgt. Manche westliche Politiker sind überzeugt, dass es um jeden Preis verhindert werden müsse, dass Moskau in der Ukraine Erfolg hat – selbst durch einen militärischen Einsatz westlicher Streitkräfte. Auch wenn dieser zunächst nur in Form von Beratern oder Ausbildern erfolgen sollte, ist es zweifelhaft, ob dies langfristig die Grenze des Engagements bleiben wird.
Zweitens führt die Domino-Theorie dazu, dass Staaten zu äußerst kostspieligen Aufrüstungsmaßnahmen greifen, um sich auf eine vermeintlich bevorstehende Aggression vorzubereiten. Genau dies lässt sich gegenwärtig bei den NATO-Mitgliedstaaten beobachten. So errichten etwa die Baltischen Staaten derzeit eine Verteidigungslinie, die offensichtlich auf den Erfahrungen aus den militärischen Operationen in der Ukraine basiert. Dort spielte die sogenannte „Surovikin-Linie“ – ein System aus russischen Verteidigungsanlagen in der Region Saporischschja – eine zentrale Rolle bei der Abwehr der ukrainischen Gegenoffensive im Jahr 2023. Gleichwohl bleibt fraglich, inwieweit die Gefechtserfahrungen aus dem Südosten der Ukraine auf die geostrategisch gänzlich anders gelagerten Bedingungen des Baltikums übertragbar sind, das über keine strategische Tiefe verfügt.

Die zunehmende Furcht vor einem möglichen russischen Angriff bis zum Ende des Jahrzehnts hat in mehreren NATO-Staaten Debatten über die Wiedereinführung der Wehrpflicht sowie über eine massive Stärkung der Verteidigungsfähigkeit ausgelöst. Derartige Maßnahmen erfolgen häufig nicht auf Grundlage einer präzisen Analyse der Motive des potenziellen Gegners, sondern beruhen auf einer spekulativen Wahrnehmung seiner Absichten – genau jenem kognitiven Muster, das die Domino-Theorie auszeichnet.
In einem solchen Kontext kann sich ein weiteres gefährliches Phänomen der internationalen Politik manifestieren: das der Sicherheitsdilemma. Dieses beschreibt die paradoxe Situation, dass Maßnahmen zur Erhöhung der eigenen Sicherheit von anderen Akteuren als Bedrohung wahrgenommen werden – wodurch Aufrüstung und Gegenaufrüstung in eine Eskalationsspirale münden, die letztlich niemandem mehr Sicherheit verschafft.







