Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Linken-Politikerin: ‚Schämen Sie sich‘ – Scharfe Kritik an Reichinnek nach Sozialismus-Äußerung“ (aus: WELT vom 05.09.2025)
Haben wir alle im Geschichtsunterricht nicht richtig aufgepasst? Oder liegt der Denkfehler vielleicht doch bei TikTok-Fangirl Heidi Reichinnek, die in einem Interview jüngst mit allerhand Selbstbewusstsein propagierte, in der DDR habe es keinen Sozialismus gegeben? Zumindest nicht jenen, welchen sich ihre Anhänger heutzutage vorstellen, moniert sie. Das Kontinuum zur einstigen SED scheint mit der Aussage ihrer Neuen-Medien-Frontfrau allerdings derart offensichtlich daneben zu liegen, dass es gar nicht allzu viel Recherche braucht, um die Widersinnigkeit der Einlassungen nachweisen zu können. Denn blickt man in das Parteiprogramm, so findet man exemplarisch eine Passage, die letztendlich kaum entlarvender sein könnte: „Deutschland ist eine Klassengesellschaft. Die Produktion von Waren und Dienstleistungen findet überwiegend in privaten Unternehmen mit dem Ziel statt, möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Die große Mehrheit der Erwerbstätigen arbeitet als abhängig Beschäftigte. Sie erhalten nur einen Teil der von ihnen geschaffenen Werte als Lohn, den Überschuss eignen sich die Kapitaleigner an“, heißt es zu dem philosophisch anmutenden Kapitel „Krisen der Zivilisation“.
Hatte tatsächlich auch niemand die Absicht, Marx und Engels zu errichten?
Stellt man nämlich ein beliebtes wie verräterisches Zitat aus dem Kommunistischen Manifest mit dem Wortlaut „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ gegenüber, so braucht es schon sehr viel Fantasie, um eine Deckungsgleichheit zu verneinen. Es war am Ende nicht nur das Bekenntnis von Honecker unter dem Motto „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“, welches ziemlich deutlich unterstrich, auf welches Pferd man setzte. Da wird man noch so viel Loslösung beteuern können, die Parallelen sind augenscheinlich: „Allein der Sozialismus gibt Eurem Leben Sinn und Inhalt. Seid auch künftig selbstlos und beharrlich, ideentreu und ergeben gegenüber Eurem sozialistischen Vaterland, der Deutschen Demokratischen Republik“, ließ er vollmundig wie absolutistisch verlautbaren. Wer in diesem Zusammenhang heimattreues Gedankengut erkennen mag, das dem internationalistischen Ansatz moderner Genossen entgegenstehen könnte, der verkennt, dass auch deren Weltoffenheit bewusst ihre Grenzen hat.
Ist DDR-Sozialismus nur deshalb nicht glaubwürdig und echt, weil er patriotisch daherkam?
„Der heutige Imperialismus stützt sich vor allem auf ökonomische Abhängigkeit und Verschuldung. […] Im Ergebnis haben die Nationalstaaten die Bildung wichtiger Preise auf den Weltmärkten, wie Wechselkurse und Zinsen, aus der Hand gegeben und der Spekulation von Banken und Devisenhändlern überlassen“, entnimmt man den Grundsätzen einer politischen Kraft, die sich händeringend darum bemüht, ihren Platz im explizit nicht miteinander zu vereinbarenden Spannungsfeld zwischen einer frei atmenden Volksherrschaft und der hierarchisch deklinierten Vergesellschaftung zu finden. Auf der einen Seite liegt der Fokus des „dialektischen Materialismus“ darin, durch Umverteilung die eigenen Leute auch dann finanziell besser zu stellen, vertrauen sie nicht auf persönliche Verantwortung, sondern auf die Leistung der Anderen. Im weiteren Aspekt beklagt man zwar die Aushöhlung der liberalen Ordnung mit der Passage „Gleichzeitig wird der repressive Überwachungsstaat ausgebaut. Mit jedem technischen Fortschritt werden neue Ideen entwickelt, um die Bürgerinnen und Bürger zu überwachen“, damit das Distanzieren von der Stasi und ihren Schergen leichter fällt.
Der Kommunismus zeichnet sich im Widerspruch aus, um unangreifbar zu bleiben…
Doch auch diese Bekundung ist inkonsistent, endet sie doch spätestens beim ideologischen Widersacher: „Mit der jetzt vorliegenden hoheitlichen Feststellung der Verfassungsfeindlichkeit der AfD […] werden zunächst nachrichtendienstliche Befugnisse […] eröffnet“, ergötzte sich der linke Landesverband in Thüringen. Ist man also näher an dem, was Walter Ulbricht mit der Botschaft umschrieb: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“, als sich das manch eine rot geschminkte Ikone der Gegenwart eingestehen möchte, die ohnehin ein merkwürdiges Verständnis ihrer Geisteshaltung offenbart, wenn sie noch im Jahr 2016 zum Besten gab: „Der offene Dialog oder gemeinsame Initiativen mit Islamisten stehen nicht im Widerspruch zu einer engeren Vernetzung mit linken PartnerInnen“ (Heidi Reichinnek u.a.: Mit Islamisten reden! Über die Notwendigkeit von kritischem Dialog und programmatischer Einbeziehung, Rosa-Luxemburg-Stiftung, S. 22)? Jedenfalls erweist sich die die 37-Jährige in ihrem Argumentieren als derart variabel, dass niemand der Versuchung erliegen sollte, ihren Bruch mit dem Arbeiter-und-Bauern-Staat allzu ernst zu nehmen.
[…] „Wir wollen tatkräftige Frauen – und zwar von der Basis bis zur Spitze“, sprach Honecker, um … […]