Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Startschuss für Fest zum Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken gefallen“ (aus: „Tagesschau“ vom 02.10.2025)
1991 beging das frisch verbundene Deutschland erstmals den 3. Oktober als offiziellen Feiertag. Turnusgemäß fand der Festakt in Hamburg statt. Der damalige Bürgermeister der Stadt, Henning Voscherau, mahnte in seiner Rede vor dem versammelten Publikum mit eindrücklichen Worten, dass die Demokratie von der aktiven Teilnahme aller Menschen lebe. Sie könne nicht gelingen, wenn es die Gesellschaft zulasse, dass Vorurteile oder Ausgrenzung das Miteinander beschädigten. Den Gemeinsinn betont nicht nur unsere Nationalhymne. Was aber ist von Einigkeit und Recht und Freiheit nach 35 Jahren des Zusammenwachsens geblieben? Vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 spaltete eine scharfe Grenzlinie nicht nur die Republik, sondern auch die Köpfe und Herzen. Als August Heinrich Hoffmann von Fallersleben während eines Aufenthaltes auf Helgoland den Text zur Melodie von Joseph Haydn entwarf, packte ihn die Sehnsucht nach einer brüderlichen und glücklichen Nation. Wurde sie nach dem Ende der DDR denn jemals nachhaltig erreicht?
Es gibt aktuell viel Ernüchterung, denn von einer souveränen und überzeugten Geschlossenheit sind wir nicht zuletzt deshalb weit entfernt, weil schon wieder – oder immer noch – jenes Band durchschnitten ist, welches uns in West und Ost über Ressentiments gegenüber dem jeweils anderen erhaben machen sollte. Es sind die unterschiedlichen Erfahrungen aus der Geschichte, welche die Sozialisation hier wie da völlig diametral prägten und leiteten. In den sogenannten „alten“ Bundesländern war man mit den Folgen des Dritten Reiches und den Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus deutlich weniger belastet. Denn die tatsächlichen Kriegsfolgen trafen mit der sowjetischen Besatzung vor allem die „neuen“. Die Bewohner dort machten kurzerhand wieder Erfahrung mit einer Diktatur, wurden aufgrund der Meinung gegängelt, in der Lebensweise diktiert, von Rechtsstaatlichkeit ausgenommen. In München, Köln, Bremen oder Kiel zeigte man mit einer gewissen Häme auf die Geschwister in Leipzig, Rostock, Dresden oder Magdeburg.
Die Selbstgefälligen des Westens sind heute „die Guten“ von links…
Da spielten sich jene zu den Besseren auf, die das Glück hatten, nach dem Ende des Hitler-Regimes nicht in die nächste Tyrannei abdriften zu müssen. Auch 2025 wird man in unseren Reihen spöttisch vorgeführt. Dieses Mal ist es nicht aufgrund der geografischen Verortung, sondern wegen der politischen Wurzeln. Sie ist wieder da, eine Mauer separiert „die Guten“ von den „Bösen“. Sie soll als Brandschutz dienen, um nicht in Berührung mit jenen zu kommen, die man in geschichtsrelativierender Weise als „Nazis“ und „Faschisten“ brandmarkt, weil sie sich den legitimen Anspruch herausnehmen, an der Wahlurne unbehelligt zu entscheiden. Es war einer der vielfach beschworenen Verdienste, nicht länger auf eine Einheitspartei setzen zu müssen, die sich derzeit als Kartell von CDU über SPD, Grüne bis zu den Linken erstreckt. Sondern Protest dadurch zum Ausdruck zu bringen, auf dem Stimmzettel die Opposition – heute als AfD – anzukreuzen. Stereotype kehren zurück, etikettieren sie eine zum Progressivismus widerläufige Anschauung des Bewahrens.
Denn die Wehmut nach früher ist größer denn je, erkennen zahlreiche Bevölkerungsteile ihre Heimat nicht wieder. Es ist nicht nur die von Katrin Göring-Eckardt prophezeite Veränderung hinsichtlich von Buntheit, Vielfalt und Toleranz, die ein Identifizieren mit der schwarz-rot-goldenen Herkunft schwermacht. Fußgängerzonen sind nicht mehr sicher, Schulen erweisen sich als ein Brennpunkt der Gewalt, Bahnhofsviertel mutieren zu Drogenumschlagsplätzen, Schwimmbäder sind gerade für Frauen mittlerweile ein Tabu. Viel eher spüren wir an einer gewissen Beliebigkeit der Justiz, an Hausbesuchen der staatlichen Gewalt im frühen Morgengrauen, dass Artikel 5 der Verfassung ebenso in Erosion geraten ist wie die Verbindlichkeit des Strafgesetzbuches. Willkür scheint ein Revival zu durchlaufen, werden Messerattentäter vor der Haft bewahrt, Beleidigungsdelikte mit voller Härte sanktioniert. Tugendwächter und Sittenpolizisten sind nicht nur im Internet unterwegs, um Gegenrede und Argwohn mit Blick auf die Herrschenden aufzuspüren. Und wer abends die „Tageschau“ konsumiert, wird immer seltener Unterschiede zur „Aktuellen Kamera“ feststellen.
Von dem Empfinden einer befreiten, souveränen und mündigen Nation ist nicht viel übrig…
Es ist dieses Gefühl von Autonomie, Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit, sich weder von Medien noch dem Zeitgeist vorschreiben zu lassen, was richtig und falsch ist, welches leidenschaftlich erwartet wurde, als die Ära von Honecker und Mielke dem Ende zuging, das wir nach dreieinhalb Dekaden abermals entbehren. Das Empfinden, nicht nur zurückgeworfen zu sein, sondern sich von den wesentlichen Werten und Errungenschaften entfremdet sehen zu müssen, enttäuscht auf ganzer Linie. Haben wir tatsächlich nichts gelernt, war der Reiz zur Potenz nie wirklich überwunden? Dass in diesen Tagen Zeugen der Despotie das Gefühl in sich hegen, das Vergangene würde rekapituliert, ist ein schmerzlicher Befund, der keine wirkliche Freude aufkommen lässt. Die ungezügelte Migration verwässert das Ehrempfinden vor unserem Gefüge, erkennen wir uns kaum wieder, nachdem Angela Merkel den Vertrag auf Ebenmäßigkeit aufkündigte. Selbstbestimmung ist nicht mehr, wir werden gesteuert von sukzessiver Verdrängung und Unterwurf.
Das Proprium und die Seele von Deutschland stehen zur Disposition. Analogie und Nämlichkeit geraten genauso unter die Räder wie Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und des Erhalts jener Ziele und Normen, die von sogenannten Schutzsuchenden und Flüchtlingen weder respektiert noch anerkannt werden. Doch auch intern kranken wir an Radikalisierung, nicht nur in der Rhetorik. Stigmata sind keinesfalls nur in der Kirche gängig, die Ehrenamtliche aussondert, weil sie der Ideologie von Volk und Tradierung anhängen, statt dem Götzen unter dem Regenbogen Dienst zu tun. Die Beatles schwärmten 1965 von „Yesterday“, die Scorpions in ihrem berühmten Klassiker über „The future′s in the air, I can feel it everywhere, blowing with the wind of change“. Können wir mit dem Hier und Jetzt zufrieden sein? Mitnichten. Und trotzdem lehrt gerade die Wende, dass Wunder durchaus möglich sind, raffen wir uns auf, mit bestehenden Verhältnissen nicht einfach Frieden zu schließen, sondern um Verlorengegangenes zu ringen. Möge dieser Mut noch einmal entflammen.