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Eine Gelegenheit für programmatische Tiefe: Das Streitgespräch mit Boris Palmer ist Chance für die AfD, inhaltliches Profil zu zeigen!

Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Umstrittene Diskussion: Palmer wendet sich vor AfD-Debatte mit Brief an die Bürger“ (aus: „Süddeutsche Zeitung“ vom 03.09.2025)

Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, fällt immer wieder durch markante Aussagen auf, um zu polarisieren und manch eine Spaltung voranzutreiben. Beispielsweise hatte er während Corona „Beugehaft“ und Pensionskürzungen für Ungeimpfte gefordert, sagte in der Pandemie auch den für massive Kritik sorgenden Satz „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, um sich damit den Vorwurf einzuhandelnden, den Älteren unter uns den Anspruch auf Leben bis zum letzten Atemzug abzuerkennen. Doch aktuell steht der ehemalige Grüne wegen eines gänzlich anderen Sachverhalts im Rampenlicht der empörten Presselandschaft, beabsichtigt er ein verpöntes Streitgespräch mit dem Spitzenkandidaten der AfD in Baden-Württemberg zur anstehenden Landtagswahl. Markus Frohnmaier will am 5. September mit ihm diskutieren, beide Seiten zeigten sich gewillt für einen fairen Schlagabtausch. Das parteilose Stadtoberhaupt begründete und verteidigte den Termin, obwohl er für Schnappatmung in der linken Szene gesorgt hatte. Doch auch der Eilantrag einer Bürgerin vor dem Verwaltungsgericht in Sigmaringen wurde nunmehr abgelehnt, verwies sie auf die amtlichen Neutralitätspflichten des geborenen Waiblingers.

Der Protest gegen den demokratischen Diskurs offenbart die Skurrilität der „Guten“…

Ein Verstoß gegen die Chancengleichheit liege jedoch nicht vor, betonten die Juristen in ihrer Entscheidung. Das Podium kann also stattfinden, wenngleich massive Proteste von Nichtregierungsorganisationen und dem „guten“ Lobbyismus vor Ort angekündigt wurden. Der 53-Jährige sieht keinen Anlass zur Panik oder Hysterie. Stattdessen unterstrich er in einem Interview im Januar, wie sehr er es für einen Irrweg halte, „dass man mit denen [der Alternative für Deutschland, Anm. d. A.] nicht sprechen soll, dass man sie ausgrenzen und stigmatisieren sollte“. Sein Ziel der Veranstaltung scheint klar zu sein: Er möchte den Konkurrenten „entzaubern“, sei er doch „bei vielen Themen inkompetent“. Worauf genau er dieses Attest stützt, wird sich im Dialog erweisen müssen. Denn prinzipiell steht der studierte Geschichts- und Mathematiklehrer auch einem Verbot der Oppositionskraft nicht im Weg, sollte Karlsruhe am Ende eines ausführlichen Prüfverfahrens zu einem entsprechenden Urteil kommen. Doch bis dorthin sei es angezeigt, nicht länger am Konzept der Brandmauer festzuhalten, habe doch schon Elon Musk deutlich gemacht, dass sich aus dieser Quelle der Separierung der Erfolg der Blauen in den Umfragen speist. Immerhin ist die Sündenbock-Theorie in der Wirklichkeit noch nie aufgegangen.

Es ist begrüßenswert, auch im Sinne der AfD selbst, dass sie endlich die Möglichkeit erhält, auf Sachfragen entsprechende Antworten zu liefern. Denn tatsächlich bleibt sie bislang hinter ihren Chancen und Potenzialen zurück, konzentriert sie sich zu sehr auf die alleinige Forderung nach Remigration und das orchestrierte Huldigen bestimmter Führungskräfte. Zwar ist die illegale Einwanderung die Mutter vieler Probleme, Sorgen und Nöte der Gegenwart. Doch die Missstände werden sich nicht allein durch eine forcierte Abschiebung beheben lassen. Stattdessen braucht es Konzepte für die Zukunft unserer Sozialsysteme, Lösungen für die festgefahrene Wirtschaft, eine Ankurbelung der Demografie, strukturierte Einsparungen im Haushalt, einen Schlussstrich unter Ideologie, Beamtenapparat und Regulierungswut. Dass es diesbezüglich zu einem harten Aufeinandertreffen von verschiedenen Weltanschauungen kommen wird, wenn sich zwei Charaktere begegnen, denen es jeweils nicht an Selbstbewusstsein fehlt, lässt auf eine interessante Debatte schließen, von der sich manch ein Vertreter von CDU oder SPD eine Scheibe wird abschneiden können. Denn Dämonisierung und Tabuisierung sind gescheitert, nur die inhaltliche Konfrontation und das Erwarten von Substanz werden funktionieren.

Auch für die AfD bietet sich die Möglichkeit, sachliche Flanken zu schließen…

Auf diesen Umstand wies Palmer selbst hin, als er noch im Mai formulierte: „Ich glaube, dass die Linksliberalen in Namen der Toleranz eine Intoleranz entwickelt haben, die das System insgesamt, die Demokratie, in der Tat so weit nach rechts schiebt, dass wir uns noch wundern werden, wenn der erste Ministerpräsident der AfD als staatliche Institution – und das werden die tun – gegen die Meinungsfreiheit vorgeht“. Der für Pragmatismus bekannte Politiker hatte deshalb noch im Bundestagswahlkampf empfohlen: „Sprechen Sie mit Ihren Freunden und Familienmitgliedern. Verabreden Sie, dass immer einer die Union und einer die AfD wählt. Teilen Sie Ihre Stimmen so klug auf, dass die AfD ein starkes Ergebnis erzielt, aber die Union mindestens 35 Prozent erreicht“. Und er schrieb sogar einen offenen Brief an die Sympathisanten eines gescholtenen Widersachers, in welchem er die Unterstützer von Weidel und Chrupalla fragte: „Worum geht es Ihnen? […] Wollen Sie den Altparteien eins auswischen, wollen Sie Ihre Wut im Wahllokal loswerden? Oder wollen Sie wirklich wieder ein normales Leben führen und etwas ändern in Deutschland?“. Hiermit legte er den Finger durchaus in eine offene Wunde, will man mehr als Prellbock sein, um im Zweifel Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Letztlich zielt der frühere Mandatar mit seinem Herauskitzeln von Erwiderung auf die Behauptung ab, es handele sich bei der Alternative für Deutschland noch immer um eine bloße Protestbewegung, der es an Struktur und Orientierung fehlt. Mittlerweile haben die Meinungserhebungen allerdings klar festgestellt: Das Kreuz auf dem Stimmzettel ist nicht mehr Ausdruck schlichter Enttäuschung und mannigfaltiger Verärgerung über das Kartell. Sondern man traut auch Höcke oder Urban zu, tatsächlich etwas zu verändern. Das Votum aus einer fundierten und gewachsenen Überzeugung ist kaum noch eine Seltenheit, sondern offenbar die Regel. Trotzdem bleibt es ein legitimer Einwand, wenn auch Palmer in der Programmatik seines Gegenübers einen klaren und konsistenten Gehalt vermisst. Wo steht man mit Blick auf eine geeinte Position bei der Ukraine, Gaza oder Trump? Wie sollen massenhafte Rückführungen von vermeintlich Schutzsuchenden in ihre Herkunftsregionen praktisch ablaufen? Wie kann das krankende Gesundheitswesen aus der Krise geführt werden? Wie geht man mit rechtlichen Fallstricken beim Komplex der deutschen Staatsangehörigkeit um? Und woran definieren sich Volk und Leitkultur im Konsens? Spannend allemal, wie sich Frohnmaier diesbezüglich einlässt.