Kommentar von Dennis Riehle zum Artikel „Die Kosten der Brandmauer sind hoch – und doch braucht es sie“ (aus: „ZEIT Online“ vom 08.11.2025)
Bist du für Russland oder die Ukraine, unterstützt du Israel oder die Palästinenser, stehst du zu Trump oder Mamdani, bevorzugst du Marx oder Milei? Schubladendenken gilt in unseren Tagen einer nahezu grenzenlosen Polarisierung der Gesellschaft, in der sich die „Guten“ mit „unserer“ von den „Bösen“ mit „der“ Demokratie abgrenzen, als ein Ausdruck heroischen Platzierens auf der „richtigen“ oder der „falschen“ Seite der Geschichte. Doch was mache ich, wenn ich in erster Linie für Deutschland eintrete, den Überfall Putins als grausam betrachte, aber die Motivation des Kremls durchaus nachvollziehen kann? Wenn ich Empathie mit jenen Zivilisten im Gazastreifen empfinde, die tatsächlich nichts mit der Hamas zu tun haben, sondern selbst nach Frieden mit dem jüdischen Volk rufen – um aber gleichzeitig zu unterstreichen, dass Jerusalem auch abseits des Holocausts zwingend das Recht auf Verteidigung von Existenz, Sicherheit und Integrität gegenüber islamistischen Terroristen hat?
Das Bemühen, für andere Perspektiven Verständnis zu zeigen, würde sehr viel Frieden stiften…
Wie soll ich mich fühlen, wenn ich das Prinzip der Marktwirtschaft respektiere, doch Solidarität und Umverteilung unter den eigenen Bürgern befürworte? Wohin gehöre ich, wertschätze ich das konsequente Vorgehen des US-Präsidenten gegen die Antifa und die illegale Migration, kann mich aber nicht so recht anfreunden mit seinem bisweilen kindlich wirkenden Stil, seinem Egozentrismus und seinem flapsigen Ton? Das Differenzieren und Abwägen scheint in einer Welt bloßer Parolen, von prosperierendem Populismus, der Oberflächlichkeit und Pauschalität ein Fremdwort zu sein. Schubladen und Schablonen verunmöglichen Schattierung, Schwarz-Weiß verdrängt Nuancen. Ein „Sowohl als auch“ muss einem „Entweder oder“ weichen, auch mit Blick auf die Lager. Doch selbst wenn ich in der AfD die einzig namhafte Kraft sehe, die wirkliche Veränderung bringen kann, würde ich sie mir aus Prinzip nie mit Haut und Haaren einverleiben wollen, denn gottgleich ist sie wahrlich nicht.
Es ist beschämend, dass ein einst geteiltes Land schon wieder solch eine Spaltung zulässt…
Denn ich bin kein Fan irgendeiner Partei, ich priorisiere höchstens. Das Glorifizieren liegt mir fern, Pragmatismus kommt meiner Philosophie näher. Ich will weniger nach Vorurteilen und Ressentiments gehen, sondern mir ein eigenes Bild machen. Das Ergebnis muss danach keinesfalls eindeutig sein, denn ich habe die Wahrheit nicht für mich gepachtet. Viele Wege führen nach Rom, manchmal gelangt man über die Umleitung schneller zum Ziel. Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich zu denken habe. Ich brauche keinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, keinen Verfassungsschutz, um zu der Erkenntnis zu gelangen, was ich für bare Münze nehmen kann. Wir sollten die Unabhängigkeit wieder hochloben, statt das zwingende Bekenntnis zu bestimmten Realitäten abzuverlangen. Denn je einfacher wir uns die Wirklichkeit machen, desto mehr Brücken reißen wir ab. Wo soll am Ende die Spaltung hinführen, die die Brandmauer als Relikt der Trennung exemplarisch verkörpert?







