Kommentar von Dennis Riehle
Warum wird man eigentlich Journalist? Diese Frage habe auch ich mir gestellt, als ich mich nach einem anfänglichen Kindheitswunsch, Theologie zu studieren und Pfarrer zu werden, aus Gründen der Missgunst der Kirche gegenüber meiner Person entschied, einen anderen Weg einschlagen zu wollen. In der Schule war der Deutschlehrer nicht immer zufrieden mit meinen Aufsätzen. Es habe ihnen an Kreativität und Wortschatz gefehlt. Und vielleicht war es der Ansporn, diesen Befund nicht einfach stehen zu lassen, weshalb ich später meine Leidenschaft für die deutsche Sprache, das Interesse an der Politik und die Neugier auf das gesellschaftliche Geschehen zum Beruf gemacht habe. Mir ging es nie um die größtmögliche Karriere, den steilen Aufstieg oder hohe monetäre Gewinne, die ich aus meinem Engagement schlagen wollte. Letztlich galt ich schon in der Schule als nach Idealen Strebender, der manch materielle Reize liegen ließ, als es darum ging, sich selbst treu zu bleiben. Und so war es nicht nur in der Ausbildung, sondern später auch in meiner aktiven Zeit der publizistischen Tätigkeit das beständige Credo, mich dem Ethos verpflichtet zu fühlen, der unter anderem im Pressekodex festgehalten ist. Da mag die Verlockung nach Macht und Einfluss noch so riesig gewesen sein: Für mich widerspricht es diametral meinem Verständnis als Schreiberling, mich um der Gunst des Ansehens willen als anbiedernder Steigbügelhalter der herrschenden Klasse sämtlicher Prinzipien zu entledigen, für die die vierte Gewalt einst einen hehren Ruf genoss. Heute ist ihr Leumund derart desaströs, dass ich kaum noch hinterherkomme, mich von den vielen Haltungskollegen zu distanzieren, die jegliches Rückgrat an der Garderobe der Redaktion abgegeben haben.
Und dazu gehören nicht zuletzt viele Akteure im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die früher einmal mehr, einmal weniger als integre, solide und aufrichtige Personen galten – und sich heute für eine Kampagne der Willfährigkeit gegenüber der zeitgeistigen Entwicklung, dem Kartell und dem Informationsmonopolismus ohne jeden Zweifel, Skrupel oder Gewissen hergeben. Da verkauft man nicht nur zufällig vorbeikommende Passanten in der Fußgängerzone als repräsentativen Bürger, der tatsächlich offen und ehrlich seine Meinung sagt – obwohl sich nicht allzu selten herausstellt, dass im Wahrheit der Volontär vor die Kameras trat, um exakt jenen Standpunkt in das Mikrofon zu prusten, welchen sich der Regisseur für eine mustergültige Inszenierung erträumt hat. Und so fehlt es mir an jeglichem Glauben, die aktuellen Beteuerungen des NDR für bare Münze zu nehmen, in der Sendung „Die 100 – Was Deutschland bewegt“ ohne jegliches Wissen und Absicht als unvoreingenommen etikettierte Protagonisten und Statisten aufgeboten zu haben, die natürlich rein versehentlich entweder ein Parteibuch innehaben – oder nebenbei als Schauspieler aktiv sind. Die Wandlung vom Saulus zum Paulus oder umgekehrt, der plötzliche Schwenk von einer dezidiert neutralen oder freundlichen Haltung hinsichtlich der AfD hin zu einer tiefsitzenden Aversion gegenüber den Blauen, das kann man nur schwer als authentische Vorgänge abtun. Stattdessen wirkten manche Sequenzen wie nach Drehbuch.
Man wollte der Öffentlichkeit beweisen, dass die ARD es schaffen kann, glühende Verfechter einer rechtskonservativen Politik kurzerhand zu ideologischen Widersachern einer patriotischen oder identitären Haltung zu machen – und ihnen damit den weltanschaulichen Teufel auszutreiben. Nahezu auf Knopfdruck legte sich bei dem offensichtlich nicht ganz so stellvertretend aus dem Hut gezauberten Souverän der Schalter im Kopf um – und die Moderatoren rühmten sich gar einer Wunderheilung. Da befreite man den heimatliebenden Anhänger des Schwarz-Rot-Gold von der Last, Deutschland als Ursprung und Wurzel zu schätzen und ehren. Und schwups, schon stand der geläuterte Regenbogenfetischist im Raum, der alles jenseits der Union als „nazi“ abtut – und sich kaum noch erklären konnte, wie man je auf den Gedanken gekommen war, nicht links der Mitte zu stehen. Was sich dort auf dem Bildschirm im Wohnzimmer der Nation wie ein Experiment schickte, war wohl die Anordnung für etwas Größeres. Ein etwaiger Testlauf zur Erprobung der Manipulierbarkeit des kleinen Mannes, der sich durch die Konfrontation mit Vorurteilen und Ressentiments von seiner Überzeugung abbringen ließ, bei der nächsten Wahl das Kreuz den Alternativen zu schenken. Auf einem schmalen Grat zwischen Verzerrung, Übertreibung und Falschbehauptung wandelnd, begaben sich die Moderatoren in ein heikles Fahrwasser, sämtliche Werte und Regeln objektiver, sorgfältiger und versöhnender Fernseharbeit mit nur einem einzigen Format in die Tonne zu treten.
Und man muss mit ein wenig Abstand zu diesem für künftige Generationen an Medienmachern mustergültigen Beispiel, wie man seinen Auftrag zu Berichterstattung, Unterrichtung und Kommentierung exemplarisch verfehlt hat, wohl unmissverständlich attestieren, dass tatsächlich ein neuer Tiefpunkt in Sachen dreister Propaganda und Demagogie erreicht wurde. Ich könnte mich als Involvierter eines solchen Gebarens gar nicht genug in Grund und Boden schämen – und schon längst keinen Blick in den Spiegel mehr werfen. Da mag die Aussicht auf Rampenlicht zur besten Sendezeit und ein mild gestimmtes Wohlwollen der Regierung noch so offensichtlich sein. Wer seine Seele, Profil und Courage als Teil einer Bewegung der vermeintlich Richtigen, Guten und Demokraten preisgibt, um bei Bedarf von Grünen, SPD oder CDU für seinen mutigen und waghalsigen Einsatz, dem Bösen die Stirn zu bieten, gebauchpinselt zu werden, der fügt nicht nur einer ganzen Branche schweren Schaden zu. Sondern er wird früher oder später Probleme damit haben, sich noch ins Gesicht schauen zu können. Denn das Gemeinmachen mit der Obrigkeit gilt nahezu als der perfideste Verrat, der in unserer Zunft möglich ist. Es mag sein, dass die Verantwortlichen mit sich im Reinen sind. Doch wer trotz dieser Bankrotterklärung noch immer Stolz empfindet, sich als eigentlich Unabhängiger mit Vehemenz auf eine Seite geschlagen zu haben, der hat für mein Verständnis nicht nur den falschen Job gewählt. Viel eher ist er zum Mitläufer im Strom der Korrekten und Wachsamen geworden, dessen Fluss durch Einebnung und Kanalisierung im Einheitsbrei enden wird. Wenn das tatsächlich ein Lebensziel sein sollte, dann habe ich sogar ein Stück weit Mitleid. Und kann mir selbst nur eingestehen, dass meine Visionen und Ambitionen anders lauten.