Kommentar von Dennis Riehle
Die Mauer galt eigentlich als ein Relikt aus vorvergangener Zeit. Denn auch wenn die aktuellen Wahlen noch einmal offenbart haben, dass es zwischen der politischen Mentalität im Westen und Osten Unterschiede gibt, war in vielen Köpfen doch das Trennende weitgehend in den Hintergrund gerückt. Aber wie so Manches aus diktatorischen Epochen in diesen Tagen ein Revival erlebt, scheinen auch Grenzzäune wieder en vogue zu sein – wenn auch nicht um unser Territorium herum, sondern in den Köpfen des Einzelnen. Sie werden also dieses Mal nicht in geografischer Ausrichtung gezogen, sondern entlang der Linie zwischen einem vermeintlich progressiven und konservativem Lager. Zu erstgenanntem gehört mittlerweile alles von CDU bis Grün, beim letzterwähnten handelt es sich dagegen um all jene, die von Lars Klingbeil als „Nazis“ bezeichnet werden. Und so ist die Brandmarkung der Anhänger, Unterstützer, Mitglieder und Funktionäre der AfD zu einem neuen Virus der Denunziation, Ausgrenzung und Tyrannei geworden, welches insbesondere diejenigen heimgesucht hat, die im Zweifel nicht einmal fähig sind, die von ihnen relativierten Begrifflichkeiten korrekt zu definieren. So scheint vielen nicht bewusst, dass der oftmals kurzerhand aus der Tasche gezogene Faschismus seine Wurzeln in der Arbeiterbewegung hat – und nur schwerlich mit einer nationalistischen oder identitären Gesinnung in Verbindung gebracht werden kann. Ohnehin haben sich die verschiedenen Vokabeln mittlerweile abgenutzt. Wer heute nicht nur durch den Verfassungsschutz mit dem Prädikat des Rechtsextremistischen versehen wird, muss sich bei nüchterner Betrachtung eigentlich geadelt fühlen. Denn er kann sich einer stabilen Haltung und aufrichtigen Identität bewusst sein, die Heimatliebe als eine Tugend anerkennt – und ein Verbrechen eher darin sieht, den kulturellen Fortbestand unserer Spezies aus hypertoleranten Gründen aufs Spiel zu setzen. Ein überzeugtes Eintreten für den Erhalt seines Ursprungs macht den vaterlandsverbundenen Bürger zu einem äußerst resilienten Widersacher des weltanschaulichen Pluralismus – und lässt seine Anhänger immer öfter verzweifeln.
So zeigen sich nur noch die wenigsten Patrioten von all den Floskeln überrascht, die aufgrund der trübseligen Leistungsbilanz vieler Linker kurzerhand inflationäre Verwendung finden – und lediglich diejenigen beeindrucken können, die sich in ihrer verbissenen Feindschaft gegenüber der eigenen Herkunft in nahezu paranoide Vergleiche zwischen 1933 und 2024 versteigen. Die sukzessive Abnutzung einer solchen Diffamierungskampagne trägt deshalb zunehmend Früchte, die der politischen Korrektheit so gar nicht in den Kram passen können. Nach dem mehrmaligen Rammen des ideologischen Eisberges befindet sich das Ampel-Schiff auf direktem Sinkkurs. Die Besatzung ist in Hilflosigkeit begriffen – und schlägt deshalb mit allen möglichen Instrumenten der Repression, Segregation und Infiltration um sich. Dass sie damit ihrem eigentlichen Ansinnen einen Bärendienst erweist, scheint sie in einem Höchstmaß der Verdrängung nicht mehr wirklich wahrnehmen zu können. Denn statt aus Wahlergebnissen entsprechende Lehren zu ziehen, sucht sie die Schuldigkeit prinzipiell beim mündigen Untertanen, der die Güte des Establishments einfach nicht zu würdigen weiß. Da versichert man sich unter den Partnern des Kartells gerade auf Bundesebene immer wieder die gegenseitige Solidarität, während es gerade in der Peripherie zu einem Erwachen kommt. Schließlich scheint man sich vor Ort über die Sinnfreiheit der Stigmatisierung des Gegners im Klaren zu sein. Denn der einfache Mann lässt sich nicht mehr von all dem Gebaren ansprechen, mit dem der Elfenbeinturm um Ablenkung von seinem Scheitern bemüht ist. Stattdessen ist es eine allzu psychologische Reaktion, sich bei Bedarf mit denjenigen im Schulterschluss zu sehen, die aus der Perspektive des skeptischen Beobachters zu Unrecht an den Rand gedrängt werden. Diese Tendenz erkennen auch kommunale Vertreter der Union mit wachsender Desillusionierung, die sich mit einem letzten Hauch an Gewissen an die anfängliche Bedeutung der Demokratie zurückerinnern – und unter diesem Eindruck eingestehen müssen, dass in einer Volksherrschaft nicht etwa Frau Faeser das letzte Wort hat, sondern der Souverän.
Und deshalb bröckelt die Kontaktscham zwischen den Christdemokraten und den Blauen langsam aber sicher. Schließlich war auch das Votum der Europawahl unmissverständlich. Die Mehrheit der Bevölkerung spricht sich für ein Kooperieren dieser beiden Akteure aus. Und da helfen auch Beschimpfungen nicht, dass man als Unterstützer der Alternative für Deutschland „dumm“, „ungebildet“ und „krank“ sei – um nur einige Attribute zu nennen, die sich in den sozialen Plattformen tummeln. Viel eher dynamisiert sich durch diese Strategie der Impertinenz ein natürlicher Prozess der Entdämonisierung. Denn begegnet man Repräsentanten der Partei, so stößt man in aller Regel nicht auf den Teufel – sondern auf ziemlich pragmatische, weitsichtige und vernünftige Mitbürger, die mit Hitler genau so viel zu tun haben wie ich mit dem Spitzensport. Sie teilen eine mittlerweile immanente Sorge von vielen Menschen, die ihre Augen nicht mehr verschließen können vor all den Missständen in unserer Republik. Und wer sich einmal ohne Scheuklappen ehrlich macht, dürfte zwischen Merz und Weidel deutlich weniger programmatische Hürden entdecken als zwischen Linnemann und Nouripour. Und so kommt es nicht wirklich unerwartet, dass sich gerade auch in den neuen Bundesländern das krampfhafte Winden um eine eine Allianz zwischen den beiden Berliner Oppositionskräften verflüchtigt – und man für die Strecke von Stuttgart nach München nicht länger den Umweg über Sylt fährt, sondern die recht simple Autobahn 8. Sprich: Das obsessive Verbiegen findet ein Ende, weil sich die Einsicht durchsetzt, nicht dauerhaft eine nunmehr stabile zweistellige Prozentzahl an Wählern unter den Tisch fallen lassen zu können. Berührungsängste werden auch deshalb weniger, weil sich bei einem untendenziösen Abklopfen der sachlichen Forderungen der AfD dem Grunde nach nichts Verwerfliches finden lässt. Daher robbt man sich über die punktuelle Zusammenarbeit möglicherweise schneller als gedacht an etwaige Zweckbündnisse heran. Und wird damit endlich dem Auftrag gerecht, der dem repräsentativen System innewohnt: Das Abbilden der majoritären Verhältnisse – und die demütige Erfüllung des sich daraus ergebenden Willens der Überzähligen.