Kommentar von Dennis Riehle
Wolfgang Bosbach galt für einen langen Zeitraum als das Gewissen seiner Partei, dem auch außerhalb der CDU viel Anerkennung und Wertschätzung zuteilwurde, weil er stets mit besonnenen Worten und einer klugen Einlassung zu den verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem Land Stellung bezog. Entsprechend vermissten viele Bürger und sogar politische Konkurrenten seine Stimme, nachdem er sich aus dem aktiven Geschehen zurückgezogen hatte – und auch medial weniger präsent war. Und so kam die Ankündigung aus dem Konrad-Adenauer-Haus nicht völlig überraschend, dass man ihn im Europawahlkampf als ein Zugpferd einbinden wolle. Ernüchtert stellt der externe Beobachter allerdings auf den letzten Metern vor dem 9. Juni mit Unverständnis fest, dass die differenzierten und weitsichtigen Tage dieses denkwürdigen Mannes vorbei scheinen – und sein einst objektiver und pragmatischer Blick auf die Gegenwart nunmehr vollends auf das Monothema dieser Tage eingeschworen wurde. Wiederkehrend hatte er sich bereits dazu hinreißen lassen, mit wenig respektvollem Gespür für die Meinungspluralität die Anhänger und Sympathisanten der Alternative für Deutschland zu verunglimpfen. Dabei konnte er mit einer inhaltlichen Demaskierung des Feindes genauso wenig punkten wie mit einem eigenen Konzept der Christdemokraten, wie man den massiven Problemen und Herausforderungen der Bundesrepublik im Augenblick begegnen sollte. Stattdessen übt er sich auch in seinem aktuellen Interview mit „Welt TV“ in der Darstellung des insgeheimen Traums, wonach die Bürger reihenweise vor der AfD davonlaufen – und sich scharenweise dem etablierten Kartell anschließen. Spätestens seit Robert Habeck wissen wir darum, dass sich die Mächtigen oftmals schwer damit tun, die Wirklichkeit in ihrer für die Ampel brutalen Ernsthaftigkeit anzuerkennen – und deshalb nicht zuletzt auf fantasievolle Wunschgedanken kommen, die mit den tatsächlichen Umständen aber kaum etwas gemein haben.
Und so nutzt Bosbach den Ausgang der Kommunalwahlen in Thüringen dafür, der Öffentlichkeit über den Äther die Botschaft anzudrehen, dass man sich an der Basis schrittweise darüber bewusst würde, wie xenophobisch und menschenverachtend der ungebliebte Wettstreiter doch sei – und dass der Souverän die Gefährlichkeit der Blauen für unser freiheitliches Miteinander erkannt habe. Er stimmt also mit ein in die journalistische Desinformation über das tatsächliche Ergebnis der Urnengänge im Osten, die vielerorts zu fulminanten zu Gewinnen für die Alternative geführt haben – welche man nur dann als Dämpfer interpretieren kann, wenn man den Maßstab der Erwartung ansetzt, dass die im Kreuzfeuer stehende Kraft flächendeckend zu einer absoluten Mehrheit durchmarschiert. Dass damit nicht zu rechnen war, dürfte insbesondere auch durch die internen Querelen der vergangenen Wochen allzu absehbar gewesen sein. Doch wer das teils zweistellige Plus im Vergleich zu den letzten Wahlen als Vergleichsgrundlage heranzieht, der muss zu der optionslosen Schlussfolgerung gelangen, dass die AfD trotz der massiven Gängelung, Repression und Diffamierung durch ein breites Bündnis an Widersachern von Union bis Linken, von Gewerkschaften, Verbänden, Kirchen, Wirtschaft, Prominenten, Forschung, Systempresse und Behörden exorbitante Stimmenzuwächse verzeichnen konnte. Und da wird der Abgesang auf sie noch so groß sein: Es ist mitnichten so, dass die Unterstützer gleich im Dutzend vom Glauben an die mit allen Mitteln des Totalitarismus bekämpfte Opposition abfallen. Stattdessen errang sie wiederum in der jungen Generation besonders viel Vertrauen – und erzielte an nicht wenigen Stellen einen deutlichen Vorsprung gegenüber der CDU.
Ich kann natürlich gut verstehen, dass man sich in einem gewissen Zugzwang befindet, wenn man als eine eigentlich konservative, bürgerliche und zumindest Mitte-Rechts-Partei in einem TV-Duell nichts Anderes zu bieten hat als die Diskussion über ein Mettbrötchen. Und so blieb Bosbach am Ende wohl nur der Griff in die Mottenkiste, um das Narrativ aufrecht zu erhalten, die Deutschen würden aus einem AfD-Alptraum erwachen – und händeringend in den gegnerischen Block überlaufen. Denn eine Tatsache hat sich unweigerlich verfestigt: Kaum jemand lässt sich noch von Brandmarkungen durch den Verfassungsschutz beeindrucken. Und auch die Dämonisierung durch den Haltungsjournalismus verfängt in den meisten Haushalten nicht mehr. Am aktuellen Beispiel der schizophren anmutenden Berichterstattung über die Geschehnisse in Sylt lässt sich mittlerweile die Hilflosigkeit erkennen, in der die regierungsnahen und sich anbiedernden Sprachrohre mit Werkzeugen der Lüge, Falschbehauptung und Manipulation um sich schlagen – um möglicherweise doch noch dem Bedeutungsverlust in der breiten Masse entgehen zu können. Es sind gerade die Erfahrungen der Bewohner im Osten, die sich noch allzu gut mit Diktatur auskennen – und nicht umsonst darauf hinwiesen: „Wir sind das Volk!“. Und so entscheidet am Ende das mündige Individuum, was er von all der Hetze hält, mit der man Höcke eine anrüchige Ideologie unterstellen will. Denn blickt man auf die Programmatik und die vielen Stellungnahmen seinerseits auf den sozialen Plattformen, so wird man dort keine pauschalen Verurteilungen von Personen allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit finden. Eine generelle Antipathie gegenüber Ausländern ist ebenso wenig konsistent wie eine Ablehnung unseres repräsentativen Staatswesens oder der wesentlichen Werte unseres Grundgesetzes.
Es wird zunehmend schwieriger, eine Stimmung in der Peripherie zu installieren, der der Verstandsmäßige in unseren Reihen auf den Leim geht – und tatsächlich an die Märchenerzählung anknüpft, irgendjemand aus der AfD plane die Deportation von Millionen Bundesbürgern mit Migrationshintergrund. Dass aktuell zu den Klängen von „L’amour toujours“ gegrölt und skandiert wird, das hat eben nicht nur seine Ursache in einem möglicherweise zu hohen Pegel. Sondern es ist die Wahrnehmung, dass sich die Zusammensetzung unserer Gemeinschaft sukzessive verschiebt – und wir uns in einem Übergang von der abendländischen Tradierung in Richtung eines fanatischen Gottesstaates befinden. Selbiger wurde vor allem dadurch möglich, dass jene Bundeskanzlerin ihre Nächstenliebe und Barmherzigkeit entdeckte – der Bosbach zwar immer wieder skeptisch und kritisch gegenüber trat, die aber letztlich das gleiche Parteibuch wie er in den Händen hält. So kann er auch nicht mit seinen ziemlich profan anmutenden Versuchen überzeugen, die Alternative für Deutschland plane autokratische Strukturen. Stattdessen ist sie die einzig stabile Wettbewerberin auf dem Tableau, die sich mit aller Konsequenz für eine Vollbremsung und eine 180-Grad-Wende ausspricht – und in ihrem Potenzial dafür geeignet scheint, entweder durch Mitbestimmung oder eine Blockadehaltung auf die künftige Ausgestaltung der Migrationspolitik entscheidend Einfluss zu nehmen. Ablenkungsmanöver helfen in einem fortgeschrittenen Stadium der Entwöhnung unserer Spezies von ihrer Heimat kaum noch. Tatsächlich sorgt sie sich nicht ohne Grund über die Zukunft, in der nicht mehr das Prinzip von autochthoner Verwurzelung und kultureller Identität der Deutschen gilt – sondern die Preisgabe der singulären Charakterlichkeit einer Zivilisation, welche jede andere Nation auf diesem Globus völlig inhärent besitzt, bei uns aufgrund einer Mischung aus Kollektivschuld und Selbstverachtung verpönt scheint. Doch gerade dagegen stemmen sich Weidel, Chrupalla, Krah oder Helferich. Und deshalb sind sie weiterhin auf Erfolgskurs – auch ohne den Segen von ehrhaften Granden der CDU.