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Nur Risse, noch kein Fall: Die Brandmauer wackelt, aber steht!

Kommentar von Dennis Riehle

Schon zu meinen aktiven Zeiten als Journalist war ich unter meinen Kollegen auch deshalb nicht immer beliebt und geschätzt, weil mir eine gewisse Begeisterungsfähigkeit für augenscheinlich pompöse Schlagzeilen fehlte. Doch ich sah es stets als meine berufsethische Pflicht an, mich als Medienschaffender in Zurückhaltung und Geduld zu üben, um weder vorzeitig auf den Zug aufzuspringen, sich von einer Berichterstattung über vermeintliche Skandale mitreißen zu lassen, die in der Regel unausgegoren waren, kamen sie doch oftmals genauso behauptend und unbelegt wie eine Meldung von Correctiv frisch über den Ticker. Aber ich war auch nicht für Sensationen zu haben, die in gewissen Bevölkerungsteilen Jubel und Feuerwerk auslösten. Schließlich ist es mein Verständnis des publizistischen Arbeitens, die Wiedergabe von Informationen nicht vorrangig auf populäre Emotionen zu stützen. Denn Überschwang sollte nicht die Leitlinie der skeptischen Kommentierung sein. Sondern das Einholen von gesponnenem Seemannsgarn.

Und so gieße ich vielleicht auch jetzt Wasser in den Wein oder mache mich zum Spielverderber, den im Sandkasten aufgrund seiner Mürrigkeit niemand haben wollte, wenn auf mich der Funke kaum übergesprungen ist, den angesichts der knappen Mehrheit für den Entschließungsantrag der Union zur Wende in der Massenmigration gerade auch viele Nutzer in den sozialen Medien nahezu frenetisch und ekstatisch feiern. Man spricht von einem historischen Tag, von einem geschichtsträchtigen Ereignis und von einer denkwürdigen Stunde, als wäre die DDR zum zweiten Mal untergegangen. Immerhin wollen einige Beobachter aus meinem Metier sogar hautnah miterlebt haben, wie die Brandmauer gefallen ist. Doch nähert man sich einigermaßen unaufgeregt und objektiv dem hauchdünnen Resultat im Bundestag, so herrschte dort nach dem Bruch der Regierungskoalition nicht weniger und nicht mehr als das Gesetz der freien Kräfte – welches man in Zeiten funktionierender Bündnisse zweifelsohne nicht häufig mitverfolgen kann. Aber diachronisch scheint es nicht.

Es bildete sich einen hinreichender Zuspruch dafür ab, künftig stärker auf Rückweisungen von sogenannten Schutzsuchenden an der Grenze zu pochen und endlich wieder dafür sorgen zu wollen, dass Sicherheit und Souveränität des Volkes mehr Gewicht bekommen. Aber schon allein dieser Umstand ist wenig revolutionär, sollte er eigentlich Normalität sein. Und er wäre auch längst als eine legitime und mit dem Recht durchaus vereinbare Möglichkeit zur Regulation der Flutung unseres Territoriums mit vermeintlichen Asylsuchenden realisierbar gewesen. Und so ist es zwar ein Durchbruch, dass aus der Theorie nun Praxis werden kann. Und die Stimmenüberzahl kam auch nicht allein durch den Zufall zustande. Trotzdem ist dieser Akt nicht mehr gewesen als das ziemlich schlichte und eventuell nur singuläre  Bereitstehen von Friedrich Merz, sich auf eine schicksalshafte Entscheidung des Plenums einzulassen, obwohl die „Gefahr“ im Raum war, dass ein Erfolg des kleinen Wurfs nur mit dem positiven Votum der AfD und etwaiger Vertreter der FDP zu erzielen sein wird.

Das Ende der Kontaktscham ist möglicherweise eingeläutet. Und das für eine Demokratie wie ein Fremdkörper wirkende Monument der Abschottung vor dem Bösen hat Risse bekommen. Aber wir sind noch lange nicht bei einer ähnlichen Dramatik wie 1989. Dass es für den Zeitraum bis zur Neubesetzung des Hohen Hauses denkbar geworden ist, einen gewöhnlichen Parlamentarismus seinen Lauf nehmen zu lassen, weil es keine festgezurrten Allianzen zwischen den Parteien mehr gibt, mag eine Randnotiz in den Annalen der jüngeren Vergangenheit wert sein. Doch es sollte sich niemand etwas vormachen. Mit dem jetzigen CDU-Vorsitzenden wird es bei aller Euphorie über sein Tolerieren von Fortuna keine Zusammenarbeit zwischen Konservativen und der Alternative für Deutschland geben, die über das passive Miteinander in einzelnen Sachfragen hinausgeht. Dies betont der Mann aus dem Sauerland mit beständiger Vehemenz. Entsprechend mag man mir nachsehen, dass ich mich im Modus des Abwartens befinde. Denn ein bloßes Erdulden des Gros macht noch keinen politischen Frühling.